Das sechste Opfer (German Edition)
hieß es von ihm in einem Forumsbeitrag. Nur war er wahrscheinlich zu klein und unbedeutend, um tatsächlich in den Kreis der Macher aufgenommen zu werden, und wurde deshalb zum Schweigen gebracht.
So einfach war das. Die Sieben Zwerge ließen durch ihre Geheimpolizei tatsächlich jeden ausradieren, der ihnen irgendwie in die Quere kam.
Das Ganze schien eine perfekt durchorganisierte Gesellschaft zu sein. Es gab ein paar Bauern, solche Kerle wie Manuel, die die Dreckarbeit erledigten, darüber saßen Auftraggeber, die ihre Befehle von den Bodyguards oder Sekretären der Zwerge erhielten. Die wiederum sorgten sich um Sicherheit und Wohl der höchsten Wirtschaftsbosse des Kontinents. Und die Hierarchie bis hinauf zu den Zwergen selbst schien auch wohl durchdacht zu sein. Der untere Vertreter wusste nichts vom nächsthöheren, so dass keiner den anderen verraten oder ans Messer liefern konnte. Und diese Organisation bestimmte in Wahrheit das Wohl und Wehe der Leute in Europa. Wie Rattenfänger pfiffen sie auf ihren Flöten der Macht und des Geldes und ließen uns kleine Verbraucher hinter sich herlaufen, in jede Richtung. Und sogar die Regierungen hatten sie in der Tasche.
Ich wollte die letzte Zeit am Computer nutzen, um noch ein bisschen auf den Spuren der Toten zu wandeln und ihre Handlungen und ihr Leben zu rekonstruieren, um meine Theorien bestätigt zu sehen und eventuell Beweise zu finden, die vor einem Gericht standhalten würden, als ich über ein Bild stolperte, das sich im Archiv einer großen Berliner Tageszeitung befand.
Es zeigte die Beerdigung des Anwalts Noah Degenhardt. An der Seite seiner Tante stand seine Frau und weinte.
Mir stockte der Atem, und ich starrte fassungslos das Bild an. Ich kannte diese Frau. Nur bei mir hatte sie sich Clara genannt.
Wie vor den Kopf geschlagen betrachtete ich immer wieder das Bild. Es gehörte zu einem Artikel über Verkehrsunfälle in Berlin.
Laut Statistik ging in diesem Jahr die Anzahl der Verkehrsunfälle mit Fahrerflucht leicht zurück. Dennoch scheint es vielen Verkehrsteilnehmern nicht ganz klar zu sein, dass sie nach einem Unfall am Unfallort zu verbleiben haben, bis die Polizei eintrifft. Viele verlassen den Ort des Geschehens und begehen somit ein strafbares Delikt. Unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, heißt das.
Da setzt nun die Arbeit der Ermittler ein: Sie sammeln Beweise, werten Zeugenaussagen aus, ziehen psychologische Schlüsse und versuchen, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Laut Statistik bleiben 50% der Unfälle mit Fahrerflucht unaufgeklärt.
Auf dem Foto ist die Familie des angesehenen Steglitzer Anwalts Noah Degenhardt bei seiner Beerdigung abgebildet. Er kam am 12. Januar bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Der Fahrer des todbringenden LKW konnte noch immer nicht ermittelt werden.
Ich druckte den Artikel dreimal aus und sah mir sogar mit Dr. Janoschs Brille, die ich im Schubfach seines Schreibtischs fand, noch einmal das Bild an. Es war etwas unscharf, aber darauf war Clara abgebildet. Es bestand kein Zweifel. Ihr dunkles Haar war hochgesteckt, sie trug einen dunklen Mantel und Stiefel und weinte in ein Taschentuch. Ich erkannte ihre Körperhaltung und ihr Gesicht, da konnte das Bild noch so undeutlich sein.
Fassungslos lehnte ich mich zurück und dachte darüber nach, was das für mich bedeutete. Damit war es klar, dass sie mich wirklich nur benutzt hatte. Sie hatte bewusst den Kontakt zu mir gesucht und mich auf die Spur der Zwerge gebracht, weil ihr Mann vorher daran gescheitert war. Sie wollte, dass die Geschichte ans Tageslicht kam, dass sein Tod nicht als Unfall abgetan wurde. Im Nachhinein betrachtet war sie sogar ziemlich plump vorgegangen, als sie mir die Geschichte von Andreas Werner unter die Nase gerieben hatte. Aber damals hatte ich nichts gemerkt.
Ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte, dass sie doch nicht zu den Bösen gehörte, oder ob ich eher fluchen sollte. Geahnt hatte ich es ja schon, aber es ist etwas anderes, wenn man plötzlich den Beweis vor Augen hat. Ich hatte ihr überhaupt nichts bedeutet, sie hatte mit mir gespielt und mich manipuliert, nach Strich und Faden. Und ich Trottel war nur allzu gern in ihre Falle getappt und hatte dabei meine Frau verloren. Hier stockte ich. Denn wenn sie wirklich nur mit mir gespielt hatte, wieso war sie zu Nicole gelaufen und hatte ihr von uns erzählt? Das wäre doch gar nicht mehr nötig gewesen, denn ich war doch schon auf der richtigen Spur.
Meine Gedanken
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