Das sechste Opfer (German Edition)
kümmerte sich nicht darum, was die anderen taten. Denn das erwartete man auch von den anderen. Dazu gehörte, dass man den anderen nicht allzu tief in die Augen sah, um sich diese Freiheit zu bewahren. Um darin nicht einen Funken von dem zu sehen, was man gar nicht sehen wollte, wovor man die Augen verschloss: Angst, Einsamkeit, Sehnsucht.
Die Polizei kannte meine neue Kleidung noch nicht und würde mich in dem Gedränge hoffentlich nicht sofort erkennen.
Und tatsächlich. Sie eilten in das Gebäude, während ich unbehelligt die Straße entlangging und zwei Blocks weiter in eine kleine Seitenstraße einbog.
Ich atmete auf. Die Gefahr war vorüber.
Die Wärme des Frühlings lag in den Straßen. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher, auf der Haut brannten die Strahlen der Sonne und ein weicher, samtiger Wind wirbelte durch mein Haar. Ein war ein wunderschöner Tag, und zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte ich so etwas wie Erleichterung. Ein Gefühl, als würde sich der Knoten um meinen Hals lockern, so dass ich wieder freier atmen konnte. Mit einem vorsichtigen Lächeln lauschte ich den Geräuschen des Frühlings und wagte den Gedanken daran, wie es wäre, den Sommer in Rostock bei Nicole und ihrer Familie zu verbringen, mit ihr am Strand zu liegen, ein Buch zu lesen und darüber nachzudenken, ob ich lieber Fisch oder Fleisch zum Abendessen mochte. Die Möwen würden unsere Kekse klauen und ein Kind von irgendeiner Strandburg würde ab und zu aus Versehen seinen Ball zu uns werfen. Ein wunderbarer Gedanke.
Ich wollte mich gerade auf eine Treppenstufe setzen, diesen Traum weiterverfolgen und dabei ein wenig mein Bein ausruhen, als plötzlich jemand von hinten auf meine Schulter klopfte. Überrascht drehte ich mich um und hatte das Gefühl, mein Herz setzte aus. Es war Manuel.
Er trug sommerliche Kleidung, hatte eine leichte, helle Hose und ein Hawaii-Hemd an, so dass er in keiner Weise wie ein eiskalter Killer wirkte. Zumal auch keine Waffe zu sehen war. Er sah mich mit überheblichem Blick an und grinste.
»So sieht man sich wieder.«
»Unverhofft kommt oft.« Mehr fiel mir im Moment nicht ein. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg, aber die Straße war leer, wie kleine Seitenstraßen eben sind. Keine rettende U-Bahn in der Nähe oder etwas anderes, mit dem ich schnell hätte entkommen können.
»Du hast meine Auftraggeber ganz schön in Aufruhr gebracht, hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Tatsächlich? Wie das denn?«
»Keine Ahnung, was du gemacht hast, aber sie haben ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt.«
»Und das willst du dir jetzt verdienen?«
»Klar. Hab ich schon so gut wie in der Tasche. Fünftausend Euro sind zwar nicht die Welt, aber da freut sich meine Süße. Du kennst sie ja. Sie lässt dich übrigens schön grüßen.«
Bei diesen Worten kam er einen Schritt näher. Ich wich zurück.
»Für das Geld bringst du ihnen meine Hand oder ein abgetrenntes Ohr? Wie ich deine Bosse kenne,
wollen sie bestimmt den Kopf.«
Er lachte. »Du kennst sie? Das glaube ich dir nicht. Dafür stellst du dich viel zu dusselig an. Nein, sie wollen deine Leiche. Sobald du deinen letzten Atemzug gemacht hast, wähle ich eine kurze Nummer auf diesem Handy und dann werden deine Einzelteile entsorgt und ich mache mir ein paar schöne Wochen auf Mauritius.«
So einfach war das also.
Doch langsam hatte ich es satt, ständig vor irgendwem fliehen zu müssen. Es nervte. Aber immerhin war mein Marktwert inzwischen gestiegen.
»Na, dann, viel Spaß.«
Ich drehte ihm den Rücken zu und ging weiter. Meine Worte mussten ihn überrascht haben, denn er kam mir nicht sofort hinterher, sondern erst ein paar Meter später spürte ich ein Messer im Rücken.
»Bist du lebensmüde?«
»Vielleicht. Aber vielleicht habe ich auch gerade einen Artikel bei einer Zeitung abgeliefert, in dem steht, wer für meinen Tod verantwortlich ist, falls der eintreten sollte. Ich denke nicht, dass deine Bosse mich danach gerne tot sehen wollen. Kann sein, dass du das Geld dann mit Zinsen zurückzahlen musst.«
Ich weiß nicht, woher ich die Kraft und Abgebrühtheit nahm, so cool mit dem Kerl zu sprechen, aber es funktionierte. Wenigstens für ein paar Sekunden war er sprachlos.
»Du lügst.«
»Was meinst du, warum ich sonst mein sicheres Versteck verlassen habe? Um mir mal die Beine zu vertreten? Nein, ich habe den Artikel bei der Zeitung abgeliefert. Die ist hier gleich nebenan. Kennst du dich nicht aus in deiner Stadt?«
Wieder war er still und
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