Das sechste Opfer (German Edition)
Fensterscheiben und sah ganz unauffällig wieder zu dem jungen Kerl, der neben Jeans und einem T-Shirt neue, teure Turnschuhe trug und seine Haare anscheinend gern mit viel Gel verwöhnte.
Die U-Bahn hielt am nächsten Bahnhof und Dr. Janosch sah auf dem Plan über der Tür nach, wie viele Stationen er bis zu seinem Ziel noch zu fahren hatte.
Er war nur wenige Sekunden unaufmerksam und hielt seine Aktentasche etwas lockerer in der Hand, als der junge Mann wie der Blitz auf ihn zu stürzte, ihm die Tasche entriss und fluchtartig die U-Bahn verließ. Bevor Dr. Janosch reagieren konnte, war der Kerl schon verschwunden. Und mit ihm die Aktentasche.
Er überlegte kurz, ob er aussteigen sollte, als sich die Türen schlossen und die U-Bahn den Bahnsteig verließ und weiter Richtung Norden rollte.
Dr. Janosch blieb mit wild klopfendem Herzen an der Tür stehen. Einige Leute starrten ihn an und rieten ihm, sofort die Polizei zu rufen, doch er schüttelte den Kopf. Er wusste, was geschehen würde, wenn er die Polizei einschaltete, das hatte Peter Mustermann ihm angedeutet. Er blieb einfach stehen und fuhr seinem Ziel entgegen. Mit der einen Hand hielt er sich an der Haltestange der U-Bahn fest, die andere presste er auf seinen Bauch, wo er das glatte und feste Papier des Manuskripts fühlte.
Er wäre nicht Dr. Janosch gewesen, wenn er nicht von Anfang an begriffen hätte, dass man nichts und niemandem trauen konnte.
***
Johannes Gerhardt überlegte wieder einmal, ob er seinen Schreibtisch aufgeräumt oder lieber völlig vermüllt übergeben sollte. Die erstere Variante hätte den Vorteil, dass ihn alle in liebender Erinnerung behalten würden, sein Chef einmal ausgenommen, denn für den hatte er sich noch einen extra Spaß aufgehoben. Die zweite Version jedoch würde allen zeigen, wie beschissen er die ganze Situation fand, und dass ihn alle gern einmal am Allerwertesten konnten. Seit ein paar Wochen grübelte er hin und her, wie er nach einunddreißig Dienstjahren seinen Abgang beim Burg-Verlag am besten über die Bühne bringen würde. Er hatte den Verlag quasi mit aufgebaut, war von Anfang an ein wertvoller Mitarbeiter gewesen, der alles Eingesandte nach dem richtigen sozialistischen Inhalt untersuchte und vielversprechende junge Talente des Arbeiter-und-Bauern-Staates förderte und ihnen zu einer schriftstellerischen Karriere verhalf. Nach der Wende hatte er sofort begriffen, dass dieser marxistisch-leninistische Humbug nicht mehr zeitgemäß war, und er konnte dem kapitalistischen Wettbewerbsdruck durchaus standhalten. Es war sozusagen seine Idee gewesen, sich auf Mystery-Novels zu spezialisieren, da er in seinem ersten Urlaub in das westliche Ausland, in diesem Falle New York, festgestellt hatte, wie sehr diese Sparte der Unterhaltung boomte. Er förderte noch immer gern neue, junge Talente, auch wenn er damit manchmal eine Menge Ärger auf sich lud und auch gelegentlich mit seiner Einschätzung danebengriff, aber seit ein paar Monaten schien sein Engagement offenbar nicht mehr erwünscht zu sein. Sein Chef hatte ihn zum Gespräch zitiert und ihm mit mitleidiger Miene erklärt, dass nun auch beim Burg-Verlag der Sparzwang eingetreten wäre und sie mindestens einen Lektor zu viel hätten. Und da er sowieso in zehn Jahren in Rente gehen würde, bot er ihm eine Art Frührente an, die sich aus ein paar Prozent seines Gehaltes und einer monatlichen Summe öffentlicher Gelder zusammensetzte. Damit kam er nicht einmal annähernd in die Nähe seines normalen Gehaltes, aber er hatte keine Wahl. Denn auch wenn es wie ein faires Angebot klang, war die Alternative noch erschreckender. Er würde überall dort eingesetzt, wo gerade jemand krank war oder in Mutterschaftsurlaub ging. Mädchen für alles. Und das stank ihm. Da nahm er doch lieber die Frührente an, machte sich mit den paar Kröten eine gemütliche Zeit mit seiner Frau in seinem Kleingarten und wartete auf das Ende. Klang doch toll.
Er hasste seinen Chef aus tiefster Seele. Ein Besserwessi aus Bayern, der knallhart nur an sich und die Zahlen dachte. Aber so einfach würde Johannes Gerhardt nicht von dannen ziehen. Er würde sich ein Denkmal setzen, an dem der Chef samt Mitarbeitern noch ein Weilchen zu knabbern hatte. Ein Buch, das so überhaupt nicht ins Verlagsprogramm passte und den Verlag eine Menge Geld und Nerven kostete, musste her. Ein letztes glückliches Talent, das er fördern würde und das den Chef bluten ließ. Das war der Plan, und deshalb hatte er in
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