Das sechste Opfer (German Edition)
nicht. Ich hämmerte und donnerte an die Tür, aber es kam keine Reaktion.
»Clara, mach auf, ich weiß, dass du da bist! Mach die verdammte Tür auf! Warum hast du das gemacht? Clara!«
Drinnen blieb alles still. Aber eine Etage tiefer öffnete sich die Wohnungstür und der Mann mit der alten Jogginghose kam die Treppe herauf geschlurft.
»Wollen Sie zu Clara? Die ist weg.«
»Wie weg?«
»Ausgezogen.«
Er stand ächzend vor mir, das T-Shirt locker über der grauen Frottee-Jogginghose, die fleckige Brille auf der Nasenspitze.
»Sie ist ausgezogen? Wann?«
»Na, vergangene Woche. Wie vereinbart.«
»Was war vereinbart?«
»Sie hat die Wohnung nur für drei Monate gemietet und ist nun ordnungsgemäß ausgezogen. Wollen Sie die Wohnung sehen? Ich hab den Schlüssel.«
»Ja.« Ich war völlig perplex.
Er holte einen Schlüssel aus seiner speckigen Hosentasche und brabbelte vor sich hin, während er die Wohnung aufschloss. Doch ich hörte nicht hin. Was war hier los? Clara hatte die Wohnung nur für drei Monate gemietet, mir aber etwas völlig anderes erzählt. Warum nur? Ich wollte es nicht glauben, aber als der alte Mann die Tür geöffnet hatte, sah ich es mit eigenen Augen: Die Wohnung war wirklich leer.
Der Geruch frischer Farbe schlug mir entgegen. Die weißen Wände waren kahl und ungemütlich, nichts wies mehr darauf hin, dass Clara einmal hier gelebt hatte. Alles schien fremd, als hätte ich noch nie einen Fuß in diese vier Wände gesetzt. Clara war tatsächlich weg.
Wie betäubt verließ ich die Wohnung. »Wissen Sie, wo sie hin ist?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf »Nein, keine Ahnung. Das verraten sie einem dann doch nicht.«
Er schlurfte die Treppe wieder hinunter und ließ mich allein zurück. Ich ging im Zeitlupentempo zurück in meine Wohnung und stand eine Weile fassungslos da. Die Stille der Räume erdrückte mich, und als ich durch die Zimmer ging und eine einsame Seidenbluse im Schlafzimmer auf dem Boden fand, die Nicole aus dem Koffer gerutscht sein musste, wurde mir auf einmal bewusst, dass es hier niemanden mehr gab, der mir nahe stand. Franz war tot, Nicole hatte mich verlassen und Clara war verschwunden.
Ich war allein. Völlig allein.
Acht Minuten nach Neun
Die Polizei kam exakt acht Minuten nach neun. Ich erinnere mich deshalb noch so genau an die Uhrzeit, weil ich mir nach einer scheinbar endlosen, schlaflosen Nacht gerade einen starken Kaffee machen wollte und dabei Nachrichten hörte. Und was der leicht näselnde Sprecher da vermeldete, ließ mich erschrocken zusammenzucken. Meldung Nummer zwei, gleich nach der Bekanntgabe eines Streiks der Straßenreinigung, lautete, dass der OTE-Chef Dr. Gruneveld in der Nacht erschossen in seiner Wohnung aufgefunden worden sei.
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Gestern noch hatte ich mit ihm gesprochen, putzmunter hatte er mir zugehört, und nun war er tot. Erschossen. Ich erinnerte mich an das Scheppern der Teller in der Küche, gleich nachdem ich die Wohnung verlassen hatte. War das etwa der Moment, in dem es passiert war? War er da zu Boden gegangen und ich hatte es gehört? Ich schüttelte den Gedanken ab. Seine Leiche war in der Nacht gefunden worden. Wahrscheinlich wurde er auch in der Nacht getötet. Blieb die Frage nach dem Warum. Wusste er doch mehr, als er mir gegenüber zugegeben hatte? In den Nachrichten sprachen sie von »ungeklärten Umständen« und dass es keinerlei Hinweise auf den Täter gab. Aber vielleicht existierte ja eine ganz einfache Erklärung dafür. Eine eifersüchtige Geliebte, ein falscher Freund, ein ungeduldiger Erbe, ein irrer Fan – es gab genügend Gründe, warum er getötet worden sein konnte. Es musste nicht unbedingt mit mir und meiner immer seltsamer werdenden Geschichte zu tun haben.
Zum wiederholten Male spürte ich, wie sich eine unangenehme Übelkeit in meinem Magen ausbreitete, so dass ich nicht einmal mehr Lust auf den Kaffee hatte. Aber dazu wäre ich sowieso nicht gekommen, denn nachdem der Sprecher die Verkehrsmeldungen verlesen und mich erinnert hatte, dass es acht Minuten nach neun sei, klingelte es an der Tür.
Es waren zwei Beamte, der eine in Uniform, der andere in Zivil, die sich als Kriminalhauptkommissar Bechthold und Kommissar Schmitz vorstellten. Hinter ihnen stand ein Mann in Zivil, der einen dunklen Anzug und einen noch dunkleren Mantel trug. Er sah aus wie ein Bestattungsunternehmer, doch als er sich mir mit ernster Miene vorstellte, änderte sich der vorschnelle Eindruck,
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