Das sechste Opfer (German Edition)
falschen Gegend.
Eine leise Hoffnung kroch in mir hoch und ich wagte zu denken, dass ich es vielleicht doch schaffen würde, in irgendein Land zu fliehen, das keinen Auslieferungsvertrag mit Deutschland hatte.
Doch als ich den jungen Mann so leblos vor mir liegen sah, verwarf ich den Fluchtgedanken wieder. Es ging nicht. Ich musste dafür gerade stehen. Mit viel Glück konnte ich ihnen beweisen, dass es ein Unfall war oder auf Notwehr plädieren und mit ein paar Jahren weniger zufrieden sein. Oder sie würden mir anrechnen, dass ich mich gestellt hatte. Zumindest hatte ich so die Möglichkeit, einmal meine ganze Geschichte zu erzählen, und falls sich die Medien für meine Missetaten interessierten, käme der ganze Hintergrund vielleicht sogar ans Licht der Öffentlichkeit. Ich beugte mich zu dem Toten und holte aus seiner Jackentasche seine Papiere, um zu wissen, wen ich da auf dem Gewissen hatte. Er hieß Carl Meyer und war siebenundzwanzig Jahre alt.
Ich hatte ein ungutes Gefühl, dass ich den Toten hier so allein liegen lassen musste, aber es ging nicht anders. Ich richtete mich auf und lief mit wackeligen Knien die Straße hinunter, die Brieftasche des Toten fest in der Hand, zur Hauptstraße, wo ich einen Fernsprecher vermutete. Doch dort war keiner. Deshalb ging ich in einen türkischen Gemüseladen und bat den Besitzer, sein Telefon benutzen zu dürfen. Er nickte, nachdem ich ihm einen Euro auf den Tresen gelegt hatte. Dann nahm ich das Telefon und wählte die 110.
Identitäten
Die Stimme am anderen Ende der Leitung war hell und freundlich.
»Notruf der Polizei. Was kann ich für Sie tun?«
Ich räusperte mich kurz, holte tief Luft und sprach, indem ich mich von dem Gemüsemann abwendete. Er musste nicht hören, was ich zu sagen hatte. »Ich möchte den Mord an einem Polizisten melden. Das heißt, es war kein Mord, sondern eher Totschlag oder Notwehr, glaube ich.«
»Wer sind Sie bitte? Von wo aus rufen Sie an?«
»Ich bin hier in irgendeiner Straße, in irgendeinem Laden. Es gibt Gemüse hier.« Ich stand offenbar noch unter Schock.
Ich wandte mich an den Gemüsemann. »Wie heißt diese Straße?«
»Künzlerstraße.«
Ich wiederholte den Straßennamen ins Telefon. Ich war plötzlich so ruhig, als würde ich der Frau eine veraltete Börsennotierung durchgeben.
»Und wer soll getötet worden sein?«
Ich nahm den Ausweis des Toten in die Hand. »Er ist Polizist, er heißt Carl Meyer. Ich habe ihn gerade erschossen.«
Ich gab die Nummer durch, während die Frau am anderen Ende für einen Moment geschockt schwieg, doch fing sie sich sofort wieder. »Und wie ist Ihr Name?«
»Es war ein Unfall oder Notwehr. Ich wollte ihn nicht erschießen, aber er mich. Und das wollte ich nicht.«
Ich klang wie ein Irrer, der gerade aus der geschlossenen Anstalt geflohen war und nun eine Spur der Verwüstung hinterließ.
Sie schwieg wieder und ich konnte hören, wie ein paar Tasten gedrückt wurden, es klang, als würde sie etwas in einen Computer tippen. Dann war sie wieder bei mir. Ihre Stimme klang plötzlich ganz anders, sehr viel kühler. »Sie wissen, dass Sie sich eine Anzeige einhandeln können, wenn Sie uns falsche Angaben machen und die Polizei in die Irre führen. Schönen Tag noch.«
»Was? Was soll das heißen? Er ist tot, ich habe ihn gerade erschossen. Er liegt da oben!« Ich sprach jetzt so aufgebracht, dass der Gemüsehändler meine Worte verstand und missbilligend die Augenbrauen hochzog. »Ich mache keine falschen Angaben, ich möchte mich stellen.«
»Es gibt keinen Polizisten mit diesem Namen. Denken Sie sich das nächste Mal einen besseren Scherz aus. Oder besser, Sie versuchen es nie wieder.«
»Aber ich habe seinen Ausweis hier! Carl Meyer.«
»Dann hat sich dieser Carl Meyer einen Scherz mit Ihnen erlaubt. Wer ist das denn? Ist er wirklich tot?«
Ich wurde unsicher. Ich gab ihr zur Sicherheit die Personalausweisnummer des Toten durch, doch auch die ergab nichts.
»Es ist niemand auf diese Nummer registriert«, antwortete die Frau, nachdem sie wieder ein paar Tasten auf dem Computer getippt hatte. »Wenn Sie sich mit uns keinen Scherz erlaubt haben, dann hat das mit Sicherheit jemand mit Ihnen. Sehen Sie lieber nach, ob die angebliche Leiche noch da ist. Auf Wiederhören.«
Sie legte auf.
Ich sah perplex auf den Ausweis des Toten. Er sah echt aus. Was sollte das? Und das Bild stimmte mit dem jungen Mann überein. Wen hatte ich da gerade getötet? Oder war er am Ende wirklich gar nicht tot?
Eilig lief
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