Das sechste Opfer (German Edition)
nicht am Leben lassen. Mir blieb nur eine Chance, diese Geschichte zu überleben: Ich musste diesem Polizisten entkommen.
Also wandte ich meine letzte verbliebene Kraft auf, um den Mann davon abzuhalten, seine Waffe abzudrücken, die er fest umklammert hielt.
Der Kerl war stark, aber ich hatte ihm offenbar den Wangenknochen zertrümmert, so dass seine ganze rechte Gesichtshälfte dick anschwoll. Er blinzelte. Ein Stück Knochen schien auf sein Auge zu drücken, so dass er kaum noch sehen konnte. Ich rammte meinen Kopf auf genau diese Stelle, um ihn noch mehr zu verletzen, und griff nach der Waffe. Er zuckte stöhnend zurück und gab nach. Jetzt hatte ich die Waffe in der Hand und beabsichtigte, sie ihm wegzunehmen, doch so leicht wollte er sie trotz seiner Schmerzen offenbar nicht aufgeben. Plötzlich knallte es.
Das Geräusch hallte durch die fast unbewohnte Straße, brach sich an den Wänden der alten Häuser und verklang in den überwucherten Hinterhöfen. Danach war es wieder still.
Ich spürte, wie sich auf einmal der Griff des Polizisten lockerte und schließlich ganz von der Waffe löste. Er sah mich an, als könne er nicht begreifen, was gerade passiert war. Dann taumelte er nach hinten und griff sich an die Brust. Langsam färbte sich seine Uniform rotbraun. Wie in Zeitlupe ging er in die Knie und schnappte nach Luft.
Fassungslos sah ich zu, wie sich sein Gesicht blau färbte und er schließlich röchelnd zu Boden sank.
Ich stand da wie gelähmt. Mein Herz raste noch immer, meine Lunge versuchte verzweifelt, Luft in meinen Körper zu pumpen. Ich merkte, wie meine Knie zitterten und langsam nachgaben. Ich spürte meine Beine nicht mehr, sie knackten einfach unter mir weg. Ich fiel auf die Straße und landete im Rinnstein.
Eine schmale Spur von Blut rann von dem Polizisten über das Kopfsteinpflaster und versickerte in den Zwischenräumen. Er rührte sich nicht mehr. Er war tot.
Ich schnappte nach Luft.
Mir wurde auf einmal übel, sehr übel. Ich konnte mich gerade noch zur Seite lehnen, bevor mein Magen alles wiedergab, was sich noch in ihm befand.
Dann saß ich da und starrte auf die Spur von Blut, während die Erkenntnis langsam in Bewusstsein drang, dass ich soeben einen Polizisten getötet hatte.
Als ich das begriff, wurde mir noch einmal schlecht, doch dieses Mal befand sich nichts mehr in meinem Magen, nur etwas Schleim, den ich aber ebenfalls ans Licht beförderte. Jetzt war ich wirklich ein Mörder. Es hatte keinen Sinn mehr, meine Unschuld beweisen zu wollen, ich war nicht mehr unschuldig. Ich hatte einen Menschen getötet, einen Polizisten, der nur seine Arbeit gemacht hatte.
Und nun war es zwecklos zu fliehen, irgendwann würden sie mich kriegen. Ich hatte jemanden getötet, ich war schuldig, auch wenn ich es nicht mit Absicht getan hatte. Ich wollte nicht damit leben, dass hinter jeder Mauer, jedem Stein ein Vertreter des Gesetzes lauern würde, der mich meiner gerechten Strafen zuführen und ins Gefängnis stecken würde. Was wäre das für ein Leben!
In dem Eifer, die Ungerechtigkeit, die mir widerfahren war und die Verbrechen, die ich dahinter vermutete, aufzudecken, war ich selbst zum Verbrecher geworden. Ich hatte die feine Linie zwischen Recht und Unrecht überschritten und stand jetzt auf der falschen Seite.
Ich musste mich stellen. Bei dem Gedanken, für viele Jahre ins Gefängnis zu wandern und dort wahrscheinlich zu sterben, hätte ich mich zwar am liebsten wieder übergeben, aber jetzt war wirklich nichts mehr drin.
Ich lachte bitter auf und versuchte, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass mein normales Leben jetzt wirklich für immer vorüber wäre und ich dieses Mal selbst schuld daran sei.
Ich sah wieder zu dem Toten vor mir und wartete darauf, dass endlich die Polizeisirenen ertönten und die Wagen um die Ecke biegen würden. Doch es blieb alles still.
Dass sein Partner uns nicht gefolgt war, konnte ich verstehen, wir waren um zu viele Ecken gebogen und in kleine Straßen gelaufen. Aber er hatte doch mit Sicherheit längst Verstärkung gerufen, und diese Einsatzwagen müssten uns doch bald finden.
Ich wartete eine kleine Ewigkeit, doch nichts passierte. Es kam nicht einmal ein einsamer Passant vorbei. Langsam wurde es dunkel. Ich fühlte mich körperlich inzwischen wieder etwas besser, obwohl mein Herz noch immer viel zu schnell und heftig schlug. Es war so ruhig, dass ich in der Ferne die Straßenbahn hören konnte.
Sie kamen nicht. Wahrscheinlich suchten sie mich in der
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