Das sechste Opfer (German Edition)
ich zurück zu dem Mann, doch der lag immer noch in der menschenleeren Straße, wie ich ihn verlassen hatte. Er war und blieb tot.
Aber wer war er? Auf einmal hatte ich es überhaupt nicht mehr eilig, mich zu stellen.
Inzwischen war es jedoch schon fast dunkel, und in dieser Gegend gab es nur sehr wenige funktionierende Straßenlampen, so dass ich kaum noch etwas sah. Was ich jetzt brauchte, war ein Versteck für mich und den Toten, damit ich in Ruhe nachdenken konnte.
Ich sah mich um und beschloss, mich wieder in einen der leeren Keller zu verkriechen. Und den unbekannten Toten würde ich mitnehmen. Auf der Straße konnte ich ihn ja schlecht liegen lassen.
Also fasste ich die Leiche an den Armen und schleifte sie unter Aufbietung all meiner Kräfte von der Straße zum nächsten Kellerfenster, wo ich sie kurz ablegte. Der Kerl war groß und schwer, größer und kräftiger als ich, so dass ich mächtig zu tun hatte. Dann stieg ich schwer atmend in den Keller hinunter und holte den leblosen Körper von unten nach, wobei ich jedoch durch die Schwere der Leiche ins Taumeln geriet und ihn unsanft fallen lassen musste. Es klang, als wären ein paar Knochen während seines Falles gebrochen. Aber ich konnte es nicht ändern.
Dann kletterte ich wieder hinaus, holte die Waffe, die noch immer im Rinnstein lag, und Franz' Computer von der Straße, obwohl ich keine Hoffnung hatte, dass dieser nach den heftigen Schlägen noch funktionieren würde.
Im Dunkel des Kellers kam mir das erste Mal mit voller Macht die Absurdität meiner Situation zu Bewusstsein. Wenn ich schon glaubte, dass ich mich in den letzten Wochen und Monaten von einem unbescholtenen, braven, freundlichen Mann zu Abschaum entwickelt hatte, der seine Frau betrog und belog, dann war ich heute endlich am tiefsten Tiefpunkt angelangt. Innerhalb weniger Stunden war ich nicht nur zum Dieb und Räuber avanciert, sondern sogar zum Mörder. Aus einem unschuldig Beschuldigten war ein Schuldiger geworden. Ich hatte einen Menschen getötet, der nun still und unbeweglich vor mir lag.
Es ist schon seltsam mit dem Tod. Ein Leben lang liegt er wie eine Drohung über einem, man fürchtet ihn und denkt über ihn nach, obwohl man den Gedanken daran am liebsten verscheuchen möchte wie eine Krähe im Kirschbaum. Doch er ist so abstrakt, dass er sich unbedacht immer wieder in den Verstand schleicht – und in den Wortschatz: »Ich lach mich tot«, »Diese Überraschung wird dich umbringen«, »Das war so peinlich, ich wäre am liebsten gestorben«. Der Tod ist allgegenwärtig, und obwohl er zum Leben gehört wie Geburt und Fortpflanzung, fürchtet man ihn wie nichts sonst auf der Welt. Er ist das Ende, die ultimative Drohung. Der gigantischste Superlativ.
In den vergangenen Tagen hatte ich genügend Zeit darüber nachzudenken, wie es wäre, jemanden zu töten, was ich dabei empfinden und wie ich danach damit umgehen würde. Doch mein theoretisches Gedankenspiel kam nicht einmal im Ansatz der Realität nahe. Es hatte mir nichts von der seltsamen Stille erzählt, die zwischen mir und dem leblosen Körper vor mir herrschte. Der Tote war ein Mensch, ein Lebewesen, das auf einmal nicht mehr atmete, dessen Haut immer kühler und matter wurde.
Als ich Franz tot in seiner Küche gefunden hatte, fühlte ich mich anders. Franz war schon seit Tagen tot gewesen, er war nicht mehr er selbst, er war schon zu etwas Anderem geworden. Aber der junge Mann, der mich eben noch angegriffen hatte, war in meiner Vorstellung noch so lebendig, dass ich jeden Moment erwartete, er würde aufstehen, sich den Staub von der Uniform klopfen und weggehen. Und als er so vor mir lag, konnte ich mir plötzlich gar nicht mehr vorstellen, dass von ihm eine solche Gefahr ausgegangen war. Er wirkte jetzt so unschuldig, so rein und hilflos wie ein Baby. Es scheint wahr zu sein, dass Tod und Geburt eng zusammenhängen. In beiden Momenten reduziert sich der Mensch zu einem reinen, unschuldigen Haufen Leben. Da gibt es kein Gut oder Böse, es gibt nur das Leben und das Ende davon.
Ich hätte es mir auch nie und nimmer vorgestellt, dass ich so schnell dazu bereit sein würde, eine Nacht mit einer Leiche zu verbringen. Aber nicht nur meine beschränkten Möglichkeiten waren der Grund dafür, dass ich nun mit dem Toten in dem Keller saß, sondern auch, weil die Realität weit weniger gruselig war als die Imagination. Solange er noch frisch war und die Verwesung nicht einsetzte, sah ich darin kein Problem. Allerdings suchte ich
Weitere Kostenlose Bücher