Das siebte Kreuz
er selbst für ein Fichte-Ferienlager abhielt. Georg war, wie er erzählte, durch den billigen Jiu-Jitsu-Unterricht zu Fichte gekommen; in den Kurs sei er bloß aus Langeweile hinein, behauptete er. Er hatte nicht geahnt, daß dieser Lehrer Franz sein alter Franz war, sein schäbiger Franz vom Fußballplatz, der hier plötzlich als Lehrer auftauchte. Georgs Augen wurden wieder eng mit winzigen Pünktchen von Haß, als gäbe es irgend etwas zu rächen, einen Schimpf oder eine Schande. Er schien den Entschluß gefaßt zu haben, Franz den Kurs zu versalzen. Doch als seine Störereien gar keinen Anklang fanden, sondern nur Widerstand bei allen, blieb er nach dem zweitenmal von selbst weg; Franz beobachtete ihn unablässig. Auf seinem schönen braunen Gesicht lag oft ein Ausdruck von Verachtung; sein Gang war fast zu aufrecht, als täten ihm alle Menschen leid, die weniger schön und stark als er selbst seien. Und nur beim Rudern oder beim Ringen vergaß er sich, und sein Gesicht wurde gut und froh, als sei er sich selbst entronnen. Franz suchte sich, von einer ihm selbst unklaren Neugierde getrieben, Georgs Fragebogen heraus: Georg hatte Autoschlosserei gelernt, war aber arbeitslos seit der Lehre.
Im folgenden Winter traf er Georg bei der Januardemonstration. Er hatte wieder das starre, fast verächtliche Lächeln. Sein Gesicht wurde erst im Singen weicher. Er traf ihn dann auf der Hauptwache, als die Demonstration sich aufgelöst hatte. Georg hatte Pech mit einem seiner Turnschuhe. Die Sohle löste sich ab im glitschigen Stadtschnee. Franz schoß es durch den Kopf, daß Georg zu denen gehörte, die auch barfuß mitgegangen wären, von Anfang bis Ende. Er fragte ihn nach seiner Schuhnummer. Georg gab zur Antwort: »Meiner Mutter ihr Sohn repariert sich das allein.« Franz fragte ihn, ob er mal ein paar Photographien vom Ferienlager sehen wollte. Er, Georg, sei auch dabei. Natürlich wollte Georg gern solche Photographien ansehen, wo er selbst beim Wettschwimmen zu sehen war und beim Jiu-Jitsu. »Das kann man sich ja gelegentlich ansehen«, sagte er. »Hast du was vor heut abend?« fragte Franz. »Was soll ich denn vorhaben?« sagte Georg. Beide gerieten ohne ersichtlichen Grund in Verlegenheit. Über den ganzen Weg in die Altstadt sprachen sie nichts mehr miteinander. Franz hätte jetzt gern einen Vorwand gefunden, um Georg stehenzulassen. Wozu hatte er sich überhaupt den Besuch dieses Burschen eingebrockt? Er hatte lesen wollen. Er ging in ein Geschäft und kaufte Wurst und Käse und Apfelsinen. Georg wartete vor dem Ladenfenster, ohne sein gewöhnliches Lächeln, mit einem fast finsteren Gesicht, das Franz gar nicht verstand, obwohl er in einem fort aus dem Ladeninnern über die Auslage weg durch die Scheibe spähte.
Franz wohnte damals in der Hirschgasse unter einem der schönen buckligen Schieferdächer. Das Zimmer war klein und schräg mit einer Tür ins Treppenhaus. »Hier wohnst du ganz allein?« sagte Georg. Franz lachte: »Familie hab ich noch keine.« – »Hier wohnst du also ganz für dich«, sagte Georg nochmals, »na ja.« Sein Gesicht war jetzt völlig verfinstert. Franz erriet aber, daß Georg mit einer großen Familie zusammengepfercht lebte. »Na ja«, das bedeutete: Na ja, so lebst eben du. Kein Wunder, daß du dann weiterkommst.
Franz fragte: »Willst du vielleicht herziehen?« Georg starrte ihn an. In. seinem Gesicht war keine Spur von Lächeln, kein Hochmut, als sei er viel zu schnell überrumpelt worden, um sich mit seinem gewöhnlichen Ausdruck zu wappnen. »Ich? Hierher?« – »Na ja.« – »Hast du das im Ernst gemeint?« fragte Georg leise. Franz erwiderte: »Ich mein immer alles im Ernst.« Er hatte es aber keineswegs ganz im Ernst gefragt, es war ihm eher herausgefahren. Es war erst nachher zu Ernst geworden, sogar zu bitterem Ernst. Georg war blaß geworden. Franz begriff erst jetzt, daß sein zufälliges Angebot für Georg von unermeßlicher Bedeutung war, ein Wendepunkt seines Lebens. Er packte seinen Arm. »Also abgemacht.« Georg zog seinen Arm weg.
Er hat sich sofort von mir weggedreht, dachte Franz in seiner Apfelkammer, er ist ans Fenster gegangen, er hat mein kleines Fenster ganz ausgefüllt. Es war Abend, Winter. Ich habe dann das Licht angemacht. Georg saß rittlings auf seinem Stuhl. Sein schönes, braunes Haar fiel ihm dicht und starr vom Wirbel ab, er schälte für sich und mich Apfelsinen.
Ich nahm die Kanne, dachte Franz, um Wasser zu holen von der
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