Das Siegel der Macht
mussten ihr Wort halten. Freudig trat der befreite junge Römer in den spiralförmigen Gang.
»Seltsam«, flüsterte er wieder. »Neben meiner Zelle gibt es keine weiteren. Und doch bin ich sicher, dass ich von dieser Seite manchmal Geräusche gehört habe. Als ob eine schwere Tür geöffnet würde.« Er nahm eine Fackel von der Wand und beleuchtete die Mauer. Elana und Gerold konnten einen hölzernen Türrahmen sehen, der mit Steinplatten ausgefüllt war.
»Vielleicht ist dort irgendein Mechanismus verborgen.« Gerold suchte mit den Fingern das Holz ab.
Elana war so aufgeregt, dass sie kaum atmen konnte. Plötzlich hatte sie Durst und erinnerte sich an ihren Krug, nahm einen kräftigen Schluck Wein. Aber das Herzklopfen verging nicht, die Aufregung ließ ihre Lungen fast platzen.
Gerold taten die Finger weh, doch er dachte nicht daran, aufzugeben. Geduldig fuhr seine Hand am Holz entlang. Da! Der Sachse zog an einem Metallbügel, der in einem Spalt neben dem Balken versteckt war. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Mauer im Holzrahmen. Die versteckte Tür war schwerer, als er gedacht hatte, aber sie gab nach. Zögernd schob Gerold sich vorwärts, stieß plötzlich einen verhaltenen Pfiff aus. Zwischen der Rampe und der Außenmauer des Kastells befanden sich Zwillingszellen.
Mit angehaltenem Atem folgte Elana den Männern. Die beiden Gefängnisse waren eng, gingen aber oben in einen offenen Schacht über. Tageslicht schimmerte auf den Steinboden. Die erste Zelle stand leer. In der zweiten lag Alexius halb verdurstet auf einer Bank, die Lippen trocken, das Gesicht eingefallen.
Elanas Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich neben den jungen Griechen setzte. Sachte schob sie ihn hoch und bettete seinen Oberkörper in ihren Schoß, hielt den Krug an seine Lippen. Weintropfen um Weintropfen floss in den ausgetrockneten Mund. Alexius sog die Flüssigkeit auf, ohne die Augen zu öffnen. Leise sprach Elana an seinem Ohr.
Gerold untersuchte den Missus. Er sah sofort, dass der Fuß des Gefangenen seltsam verdreht und geschwollen war. Offenbar hatte Alexius an der Mauer hochzuklettern versucht und war unglücklich gefallen. Die beiden Männer zogen den Kaiserboten aus und streiften ihm einfache Arbeitskleider über, die Gerold sich um die Taille gebunden hatte.
Beim Aufstehen merkte Elana, dass ihr Haar locker über die Schultern fiel. Glücklicherweise hing das Tuch noch an einer Locke im Nacken. Rasch knotete sie das goldene Haar zusammen und versteckte es sorgfältig unter dem Tuch.
Vom oberen Rampenende her tönten die Stimmen der Fronarbeiter, die nach Sonnenuntergang die Burg verließen. Der befreite Römer schob die Tür so weit zu, dass sie nicht einschnappen konnte, und wartete, bis alle Bauleute vorbeigezogen waren. Dann zog er die Tür wieder auf und winkte den anderen.
Gerold schüttelte verzweifelt den bewusstlosen Missus. Eine Ohrfeige, zwei. Endlich, Alexius öffnete die Augen. Die Retter stützten den Hinkenden, schleiften ihn mit sich, um die hintersten Bauleute zu erreichen. In den Reihen der Fronarbeiter führten sie Alexius durch das Burgtor in die Freiheit.
20
Otto fühlte sich nicht wohl auf seinem erhöhten Thron in der Pfalzhalle von Pavia. Eine innere Unruhe quälte ihn seit Tagen. Wie die Krone strahlte seine festliche, mit Edelsteinen bestickte Dalmatika über der kürzeren Tunika Würde aus. Die großen Augen des Siebzehnjährigen aber verrieten, dass den Kaiser Sorgen plagten wie jeden anderen Menschen. Er umfasste den Reichsapfel mit mehr Elan und verbesserte seine Haltung. Gerade, den Kopf leicht an die Falten des weichen Vorhangs gelehnt, zwang er sich zur Aufmerksamkeit. Der Zweikampf in der Mitte der Halle näherte sich dem Ende.
Die Gerichtsverhandlung vor Kaiser, Papst und Herzögen war längst vorbei. Worte hatten den Streitfall nicht lösen können. Der Bischof von Tortona beanspruchte das Erbe seiner Mutter am Langensee, Burgherr Richardus und dessen Frau Waldrada machten es ihm streitig. Schriftliche Beweise gab es nicht. Der Vorsitzende verzichtete auf Eidbezeugungen. Noch vor vier Jahrzehnten war es Brauch gewesen, Besitzstreitigkeiten durch Gotteseide zu schlichten. Die Beteiligten aber schworen immer häufiger bei Gott und allen Heiligen, bei den Reliquien und dem Seelenheil der Eltern ihre Meineide. Die Strafe, sieben Jahre Penitenz , hielt nicht von falschen Schwüren ab. Schließlich bestimmte der Großvater des jungen Kaisers, der Eid sei bei
Weitere Kostenlose Bücher