Das Sigma-Protokoll
jedoch nur ein ziemlich angeschlagen klingender Mann, der sagte, er sei für heute schon gebucht. Er hätte allerdings einen Freund, Caspar, der... Also noch ein Anruf. Es war schließlich Nachmittag, bis Ben endlich mit Caspar, einem übel launigen Mann in mittleren Jahren, zusammentraf. Caspar schätzte ihn mit einem schnellen Blick ein und nannte ihm dann einen unverschämt hohen Preis. Der Pilot lebte ganz anständig davon, Geschäftsleute über die Grenze in die Schweiz zu fliegen, ohne dass diese Ausflüge Spuren in irgendwelchen Computern hinterließen. Südamerikanische Drogenbarone, afrikanische Potentaten oder Unternehmer aus dem Nahen Osten hatten des öfteren Bankgeschäfte in Liechtenstein oder der Schweiz zu erledigen, die sie lieber ohne Wissen der Behörden tätigten.
Der permanent höhnisch grinsende Pilot nahm an, dass Ben Ähnliches vorhatte. Eine halbe Stunde später wollte Caspar den Flug wegen einer Sturmwarnung über St. Gallen abblasen, ließ sich aber von ein paar zusätzlichen Hundertdollarscheinen umstimmen.
Als die Turbulenzen über den östlichen Alpen die kleine zweimotorige Propellermaschine kräftig durchrüttelten, wurde der wortkarge Pilot fast redselig. »Da, wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort: Besser reich leben als reich sterben.« Er kicherte in sich hinein.
»Kümmern Sie sich um die Maschine«, sagte Ben gelangweilt.
Er fragte sich, ob seine Vorsichtsmaßnahmen nicht etwas übertrieben waren. Allerdings hatte er nicht den blassesten Schimmer, wie weit der Arm der Leute reichte, die seinen Bruder ermordet
hatten, oder der Leute, von denen der Mann engagiert worden war, den er als Jimmy Cavanaugh kannte und der in Zürich versucht hatte, ihn zu erschießen. Jedenfalls hatte er nicht vor, es diesen Leuten einfach zu machen.
Außerhalb von St. Gallen hielt er einen Bauern an, der mit Gemüse auf dem Weg zum Markt und den Restaurants der Stadt war. Auf seine erstaunten Blicke hin erklärte Ben, dass sein Wagen ein paar Kilometer weiter den Geist aufgegeben habe. Später nahm er sich einen Mietwagen und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Bauerndorf namens Mettlenberg. Die Fahrt war nicht weniger ungemütlich als der Flug. Es schüttete so stark, dass die Scheibenwischer der Wassermassen kaum Herr wurden. Außerdem war es später Nachmittag und schon vollkommen dunkel; Ben konnte gerade mal ein paar Meter weit sehen. Glücklicherweise war der Verkehr in beiden Richtungen so dicht, dass alle Fahrzeuge auf der schmalen Landstraße nur kriechen konnten.
Er befand sich nicht weit entfernt vom Bodensee im Kanton St. Gallen, einer abgelegenen, nur dünn besiedelten Gegend im Nordosten der Schweiz. Wenn der Regen etwas nachließ, konnte Ben die großen Bauernhöfe, die Rinder, Schafe und Ackerflächen erkennen. Unter den Dächern der einfachen Gebäude fanden Stallungen, Scheune und Wohnbereich der Bauern Platz. Das Feuerholz unter den vorstehenden Dächern war mit geometrischer Präzision aufgestapelt.
Während der Fahrt litt Ben unter gewaltigen Stimmungsschwankungen: Mal beherrschte ihn Angst, dann versank er in tiefe Trauer, oder es packte ihn kalte Wut. Inzwischen nieselte es nur noch, und Ben sah vor sich Häuser aus dem Dunst auftauchen. Das musste Mettlenberg sein. Er schaute auf die Reste einer einst befestigten mittelalterlichen Stadt. Ein alter Kornspeicher und eine Marienkirche aus dem 16. Jahrhundert. Pittoreske, gut erhaltene Steinhäuser mit verzierten Holzfassaden und -giebeln und roten Walmdächern. Die kleine Ansammlung von Gebäuden konnte man kaum Dorf nennen.
Laut Peter hatte dessen Freundin Liesl sich in diesem Ort um eine freie Stelle in einem kleinen Krankenhaus beworben. Das im Umkreis von mehreren Kilometern einzige Krankenhaus war das Regionalspital Sankt Gallen Nord.
Kurz hinter der >Ortsmitte< entdeckte er einen etwas armseligen, ziemlich modernen Ziegelbau. Ben tippte auf Sechzigerjahre. Das Krankenhaus. Er hielt an einer Migros-Tankstelle, neben der sich eine Telefonzelle befand.
Als sich die Telefonistin des Krankenhauses meldete, sagte er: »Könnten Sie mich wohl mit einem Kinderarzt verbinden? Meinem Jungen geht es nicht so gut.«
Als Peter von Liesls Anstellung erzählt hatte, waren seine Worte gewesen: »Die brauchten gerade eine Kinderärztin«, weshalb Ben hoffte, dass sie die einzige Kinderärztin im Krankenhaus war. Das war zwar nicht unbedingt zwingend, doch Ben nahm an, dass sie in einem so kleinen Krankenhaus nur einen
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