Das Sonnentau-Kind
Magen kommt wieder hoch, sauer und kratzig macht er meine Kehle wund. Ich überlege zum ersten Mal, ob ich nicht einen Fehler begangen habe. Einen gewaltigen Fehler. Was will ich hier? Oder in Deutschland? Ich kann weder die Sprache, noch habe ich die leiseste Ahnung, wohin ich eigentlich genau will. Ist Moordorf eine große Stadt? Mit Arad zu vergleichen, vielleicht sogar mit Bukarest?
Onkel Casimir scheint mir meine Angst anzumerken. «Ich habe eine Idee. Es könnte eine gute Chance für dich sein.»
Ich setze mich etwas auf. Er legt seine große, schwere Hand auf meinen Scheitel.
«Du wirst mit Wasserfall weiterfahren.»
«Wasserfall?»
«Ich kenne ihn, und in diesem Augenblick fährt er gerade hinter uns. Er ist fast immer nach Norddeutschland unterwegs, und dahin willst du doch, oder? Also, tja, es ist so: Er muss verdammt oft pinkeln. Das weiß bei uns jeder. Deswegen der Spitzname, alle nennen ihn Wasserfall. Ich werde dich auf seine Ladefläche schmuggeln.»
«Und dann?»
«Das ist deine Chance, verstehst du? Zähle die Stunden, wenn er wieder abfährt. Sein Ziel wird er in achtzehn Stunden erreicht haben. Morgen früh ist er in Hamburg, so heißt die Stadt, in die er fährt. Und du nutzt die Gelegenheit seiner letzten Pinkelpause und machst dich vom Acker. Verschlafen darfst du nicht, verstanden? Auf keinen Fall. Wasserfall verschwindet immer erst im Gebüsch, bevor er die Ladung kontrolliert. Also, sobald der Wagen steht, schleichst du dich davon. Dann musst du zusehen, wie du zurechtkommst. Mehr kann ich nicht für dich tun, mein Kind.»
Ich nicke.
Onkel Casimir greift zum Funkgerät. «Wasserfall, drückt die Blase wieder? Wir könnten uns bei nächster Gelegenheit auf einen Zigarillo verabreden.»
Aus dem kleinen schwarzen Kasten rauscht eine Antwort, die ich nicht verstehe. Aber der Lastwagen wird langsamer, und Onkel Casimir setzt den Blinker.
«Weißt du, wo Moordorf ist?», frage ich Onkel Casimir. Doch er sagt nichts mehr. Ich glaube, er hat fast so viel Angst wie ich. Wir stehen. Er zieht mit viel Kraft die Handbremse an und stellt den Motor ab. Es ist so still auf einmal, und ich vermisse das Vibrieren des Wagens. Onkel Casimir schnappt sich die Zigarilloschachtel und steigt aus. Langsam ziehe ich mich hoch. Da draußen sehe ich nur Wald und ein Stück vom Himmel. Wie spät ist es? Geht der Tag meiner Flucht schon dem Ende zu? Oder ist noch Nachmittag? Der tiefe Schlaf in meinem unbequemen Versteck hat mich durcheinandergebracht, mein Zeitgefühl betäubt. Ich wage mich noch ein bisschen höher und entdecke den anderen Lkw, er ist rot, sieht moderner aus als der, in dem ich sitze. Die Plane flattert hin und her, ich kann den Schriftzug darauf nicht erkennen, es ist eine andere Schrift als die, die ich bei Prim ặvarặ gelernt habe.
Überhaupt scheint mir das alles so weit weg: die Schule, die ich so selten besucht habe, das Teatrul vechi. Ich kann nicht glauben, dass es gestern war, als ich in Arad am Bahnhof stand und auf dich gewartet habe. Dass es vielleicht gerade dreißig Stunden her ist, seit Roland Peters mich mitgenommen hat in die Schule, als er mir deinen Brief gegeben hat. Zum ersten Mal frage ich mich, was dieser Mann eigentlich gewollt hat, als er mitten in der Nacht zu unserem verfallenen Quartier geschlichen ist. Wollte er mich noch einmal überreden, wieder zum Lernen vorbeizuschauen? Mitten in der Nacht? Kaum vorstellbar. Oder hatte er eine wichtige Nachricht für mich? Vielleicht eine Botschaft von dir, Aurel? Ich werde es nie erfahren. Weil ich aus lauter Angst, aus lauter Verzweiflung mein Messer gezückt habe.
Die Beifahrertür, an die ich mich mit einer Schulter gelehnt habe, wird so hastig aufgerissen, dass ich vor Schreck fast herausfalle. Mein Kopf knallt gegen die Stufenkante, mir wird einen Moment lang schwindelig. Die frische Luft klatscht mir ins Gesicht wie ein nasser Lappen. Hier drinnen ist es stickig gewesen und verqualmt. Ich atme durch und starre in Onkel Casimirs Miene, aus der ich ebenfalls Schrecken lese und Nervosität, Anspannung, es ist fast nicht zu ertragen. Er greift mir unter die Achseln und zieht mich aus dem Führerhaus. Meine Beine sind zu weich, ich kann kaum stehen. Das ewige Zusammenkrümmen beim Sitzen hat sie taub werden lassen. Ohne Onkel Casimirs Hilfe schaffe ich keinen Schritt. Er sagt kein Wort, zischelt nur, schleift mich mehr, als dass er mich stützt, ich ziehe eine Schlangenspur in den Kiesboden. Dann fühle ich meine
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