Das Sonnentau-Kind
Sie lief rot – fast blau – an vor Aufregung. Sie spuckte beim Schimpfen. Sie war, das musste Axel Sanders sich einmal mehr eingestehen, unwiderstehlich Wencke.
«Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, in den eigenen vier Wänden niemals über Dienstliches zu plaudern?»
«Ich wollte nicht plaudern, ich wollte dich zur Schnecke machen. Weil du den Fall Aurel Pasat einfach zu den Akten legst, obwohl …»
«Obwohl was? Alle Fakten sprechen für einen Selbstmord, meine Liebe. Das rechtsmedizinische Gutachten …»
«Das vorläufige Gutachten …»
«Meinetwegen. Aber wir haben ein Motiv, einen Abschiedsbrief, einen Fundort, an dem alles für einen Alleingang spricht. Du kannst es drehen und wenden, wie du willst. Es ist lediglich dein überstrapazierter Ehrgeiz, der dich an dieser Tatsache zweifeln lässt.»
«Mein was?» Ihre Augen sprühten Funken, sie hatte sich von ihrem Stuhl, auf dem sie nach ihrem verspäteten Erscheinen Platz genommen hatte, mit einem Ruck erhoben. «Überstrapazierter Ehrgeiz? Was meinst du denn damit?»
Er genoss es, sie ruhig und besonnen anzulächeln, denn er wusste, dass es sie rasend machte, wenn er sich ungerührt zeigte. «Du willst uns allen beweisen, dass du es im Griff hast – Baby Emil und den Job. Du willst zeigen, dass du noch immer die alte Wencke Tydmers bist. Die Powerfrau mit der mystischen Macht der weiblichen Intuition. Aber in diesem Fall schießt du über das Ziel hinaus. Es gibt hier nichts zu deuteln, die Sache ist klar.»
«Du solltest nach dem Mountainbike suchen lassen. Es ist sehr interessant, dass er es allem Anschein nach dabeihatte. Hätte er sich umbringen wollen, wäre er doch eher zu Fuß zum Schuppen gegangen. Es sind nur wenige Schritte …»
«Ich werde die Heiligers fragen, ob die das Fahrrad inzwischen gefunden haben. Bist du damit zufrieden?»
«Ich habe Annegret Helliger bereits danach gefragt. Sie hat es nicht gesehen. Aber ich habe bemerkt, dass sie seltsam steif wurde, als ich sie darauf ansprach. Ihre Hände …»
«Mir ist es egal, was du wieder bemerkt zu haben glaubst, Wencke, und die Sache mit dem Fahrrad hat meiner Meinung nach überhaupt nichts zu bedeuten. Du verrennst dich in etwas. Soll ich nun wegen jeder Kleinigkeit, die dir auf einmal im Kopf herumspukt, eine Hundertschaft losschicken, oder was?»
«Axel!»
«Immerhin hast du es gestern versäumt, den Kollegen diese ach so relevante Information mit dem Fahrrad weiterzugeben. Sonst hätten wir ja danach suchen lassen, wo wir schon mal da waren, auch wenn ich da keinen wirklich gewichtigen Zusammenhang sehe.»
«Gestern Abend habe ich mit einem deutschen Sozialarbeiter in Arad gesprochen. Auch er hat indirekt gesagt, dass …»
«Hör doch endlich auf. Was irgendwer irgendwo indirekt gesagt hat, ist wirklich … Mir fehlen die Worte!»
«Axel, dann lass mich wenigstens noch einmal versuchen, zu dieser Teresa Kontakt aufzunehmen.»
«Meinetwegen, telefonier dir die Finger krumm. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein rumänisches Straßenkind brav vor dem Telefon hockt und auf einen Anruf von Wencke Tydmers wartet. Wenn sie etwas Wichtiges zu sagen gehabt hätte, wäre sie doch zur verabredeten Zeit da gewesen. Aber stattdessen scheint sich dort im tiefen Transsilvanien schon längst kein Mensch mehr für dich und deine Aurel-Pasalt-Theorien zu interessieren. Ist es nicht so?» Bald riss Axel der Geduldsfaden. Wie konnte man nur so hartnäckig, stur und unbelehrbar sein. Prallten denn all seine so offensichtlich plausiblen Argumente an ihr ab?
Trotzdem bereitete es auch irgendwie Spaß, mit Wencke Tydmers zu streiten. Das hatte es schon immer getan.
«Und der Liebesbrief?» Sie fuchtelte mit dem Schriftstück hin und her, welches sie ihm vorhin so enthusiastisch auf den Schreibtisch geknallt und als Wende im Fall Aurel Pasat angekündigt hatte. «Was ist damit? Glaubst du, ein Lebensmüder schreibt so etwas?»
«Warum denn nicht? Die Zeilen sind zudem schon eine Woche alt. Nehmen wir an, die Verliebtheit ist in den vergangenen Tagen der bitteren Erkenntnis gewichen, dass eine Beziehung zu einer zwanzig Jahre älteren und verheirateten Frau und Mutter ziemlich aussichtslos ist. Dann, das musst du zugeben, liebe Wencke, müsste man dieses Indiz noch zusätzlich als Selbstmordmotiv ansehen.»
Ihr breiter Mund klappte zu, ihre sonst so lebendigen Gesichtszüge sackten in sich zusammen wie ein Soufflé, welches man zu früh aus der Ofenhitze nahm. Fast tat sie ihm leid.
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