Das Spektrum der Toten
Sie suchte weiter nach einer friedlichen Methode im Widerstand gegen den Alten.
Vielleicht aber, und das ist nicht ganz auszuschließen, ließ Helmuts Mutter ein Rest von Ungewissheit noch vor offener Gewalt gegen ihren Vater zurückschrecken. Sie suchte nach einem letzten Beweis für ihren Verdacht. Sie erkundigte sich bei allen alten Leuten, wie man unumstößlich erkennen könne, ob ein Mensch verhext sei. Und die Befragten wussten Rat, denn die Existenz von Hexen und der Kampf gegen sie gehört seit langen Zeiten und bis auf den heutigen Tag zum dörflichen Lebensalltag.
»Nimm einen Glaskrug und lass den Verhexten darin sein Wasser abschlagen. Schäumt der Urin und sondert sich ein trüber Belag ab, ist er mit Sicherheit verhext.«
Die Mutter tat, wie ihr geheißen. Helmut urinierte in einen Glaskrug, und in den nächsten Stunden bildete sich auf dem Boden des Krugs ein weißlichtrüber Niederschlag. Der letzte Beweis war erbracht.
Was tun? Die Mutter wusste es nicht, der Vater war ebenso ratlos. Die einzige Rettung für Helmut sahen sie darin, ihn vom »Hexenmeister« fernzuhalten. Sie schickten Helmut erneut zu seiner Halbschwester. Auch dort ging es ihm nicht besser. Helmut erzählte ihr, der hexerische Einfluss des Großvaters müsse bis hierher reichen. Die Schwester machte sich über Helmuts Hexenangst lustig, sie glaubte nicht daran. Ihr Unglaube ärgerte Helmut maßlos. »Siehst du denn nicht, was der Großvater mit mir gemacht hat? Mir wird es erst besser gehen, wenn ich ihn umgebracht habe.«
»Mach dich nicht unglücklich, Helmut«, erwiderte die Schwester entsetzt.
»Ich bin unglücklich, solange er lebt!«
Helmut verschloss sich allen Einwänden seiner Schwester, sie hielt eine weitere Diskussion für zwecklos. Auch Helmut erwähnte in den nächsten Tagen das Thema nicht mehr. Er verfiel sichtbar in Apathie und zog sich in sich selbst zurück.
Am Abend des 5. Oktober 1951 stieg er auf sein Fahrrad und fuhr auf den ländlichen Hof zurück.
Er vermied es, sich bei den Eltern sehen zu lassen. In der Scheune nahm er ein Beil vom Hackklotz, mit dem gewöhnlich den Hühnern der Kopf abgeschlagen wurde.
Dann schlich er in die Schlafkammer des Großvaters. Er richtete den Schein der Taschenlampe auf den alten Mann. Der Großvater schlief bereits.
Helmut erschlug ihn mit mehreren Beilhieben.
Blutbespritzt ging er in den Kohlenkeller. Er schlang ein Seil um den Deckenbalken. Mit einem Stück Kohle schrieb er an die weiße Wand:
»Ich wollte mich rächen für das, was er mir angetan hat. Opa hat selbst zugegeben, dass er das kann. Liebe Eltern, sorgt für Helga und seid mir nicht bös, ich konnte nicht anders euer Helmut«
Diese beiden Tötungsverbrechen zeigen, wie der Aberglaube auch noch in unserer Zeit mitten in Deutschland Menschen zu Mördern werden lässt. Aberglaube schaltet das logische Denken aus. Der Abergläubische unterwirft sich irrationalen Einflüssen, die für den aufgeklärten Menschen unbegreiflich sind. Der Glaube der Täter an Hexen, die Angst vor ihrer Macht waren das Motiv für die Tötung. Man sollte jedoch den hier dargestellten, bis zum Verbrechen ausartenden Hexenwahn nicht mit dem Mummenschanz und den jahrhundertealten ausgelassenen Volksfesten verwechseln, wie sie sich üblicherweise in der Walpurgisnacht kundtun. Für die dabei als Hexen und Teufel maskierten Leute ist das ein lustiges Maskenfest, und von ihnen wird kaum jemand ernsthaft an die Existenz dieser mystischen Figuren glauben.
Dabei wäre bei den hier berichteten Fällen die Existenz von Hexen leicht zu widerlegen gewesen. Im ersten Fall bot die Bemerkung des Bürgermeisters eine Erklärung für die häufigen Erkrankungen im Viehstall des Bauern Mollenhauer. Ungenügende Hygiene in der Tierhaltung begünstigt Infektionen, mangelnde Ernährung schwächt die Widerstandskraft. Natürliche Ursachen also, die die Betroffenen nicht begreifen oder auch nicht wahrhaben wollen, weil sie auf eigene Schuld oder Unschuld hinweisen. Es beruhigt, andere für das eigene Versagen schuldig zu sprechen: Hexen!
Auch der nächste Fall zeigt, dass abergläubische Furcht jede Überlegung ausschaltet.
Die Geschichte des jungen Mörders Helmut und seiner Eltern macht die einzelnen Stufen deutlich, in denen sich der Wahn herausbildete. Auch hier ließe sich das Werk übernatürlicher Kräfte auf natürliche Ursachen zurückführen.
Helmut war nach dem Weggang von zu Hause aus der ländlichen Umgebung in die Stadt und in
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