Das Spektrum der Toten
aber in unablässigem Selbststudium okkulter Schriften anzueignen versuchte. Seine Anhänger vertrauten ihm blindlings und verehrten ihn, obwohl er sich selbst noch als okkultistischen Lehrling bezeichnete, als ihren Führer in das Reich der Mysterien von Leben und Tod. Willig unterstützten sie Niemeyer und seine Familie mit Geld, Lebensmitteln und Sachgeschenken und ermöglichten es ihm, sich ohne materielle Sorgen seinen intensiven okkultistischen Studien zu widmen. Sein erstes Ziel, so verkündete er, habe er schon erreicht: Hellseher zu sein. Auf dem linken Ohr höre er Stimmen, die ihm befählen, was er tun solle, und die ihm das Hellsehen ermöglichten.
Niemeyers Hauptziel war jedoch noch viel ehrgeiziger. Die Stimmen hatten ihm mitgeteilt, er sei berufen, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Niemeyer verhehlte sich und seinen Anhängern nicht, wie schwierig das sei. Aber er hoffte, in den Büchern die geeignete Methode zur Überwindung des Todes zu finden.
Niemeyer bedrängte auch seine Frau und seine Kinder ständig, alles diesem Ziel unterzuordnen und bedingungslos an seine überirdischen Handlungen zu glauben.
Eine seiner Töchter, die 17jährige Renate, die kurz vor dem Abitur stand, war über diese Situation unglücklich. Krampfhaft versuchte sie, die Existenz übernatürlicher Mächte mit den in der Schule gelernten Gesetzen der Chemie und Physik in Einklang zu bringen. Die älteste Tochter, die 22jährige Hedwig, wohnte ebenfalls noch bei ihren Eltern. Eines Tages jedoch verbreitete sich das Gerücht, Hedwig sei verschwunden, und zwar schon längere Zeit.
Die Kripo erfuhr davon und begann nachzuforschen. Bald stellte sich heraus, dass Hedwig seit mindestens zwei Jahren von niemandem im Dorf mehr gesehen worden war.
Der ermittelnde Beamte suchte die Familie Niemeyer auf. Niemeyer bestätigte, dass Hedwig vor mehr als zwei Jahren weggezogen sei und auf einem Bauerngut in Westfalen arbeite.
Noch bevor die Kriminalpolizei diese Aussage überprüfen
konnte, erschien der genannte Bauer bei dem ermittelnden Kriminalisten und bestätigte, Hedwig befinde sich auf seinem Hof. Er erklärte sich bereit, das mit einer polizeilich bestätigten Aufenthaltsgenehmigung zu beweisen. Der Kriminalist war mit diesem Vorschlag einverstanden. Doch er wartete vergeblich auf das Dokument, sein Misstrauen wuchs, dass ihm etwas verheimlicht wurde. Die Nachforschungen wurden verstärkt und erbrachten immer widersprüchlichere Ergebnisse. Mehrere Zeugen - alle aus dem Dorf und dem Freundeskreis Niemeyers - meldeten sich und erklärten, sie hätten Hedwig in letzter Zeit da oder dort gesehen. Beweise konnten sie nicht erbringen.
Niemeyer wurde erneut vernommen. Nun behauptete er, Hedwig sei krank, befinde sich in ärztlicher Behandlung und wohne deshalb bei seiner Nichte. Er fügte hinzu: »Warten Sie bitte bis zum kommenden Montag. Um 17 Uhr werde ich mit Hedwig auf dem Amt erscheinen, dann können Sie sich überzeugen, dass sie am Leben ist.«
Aber der Montag verging, ohne dass sich Vater und Tochter bei der Kriminalpolizei blicken ließen.
Nun war die Kripo überzeugt, dass Hedwig ermordet worden war. Die gesamte Familie wurde verhaftet.
Empörung und Wehklagen verbreitete sich unter Niemeyers Jüngern. Ihr Oberhaupt ein Mörder! Der Wohltäter der Menschheit ein Verbrecher! Zugleich jedoch vertrauten sie seiner hellseherischen Gabe. Er würde schon erklären können, was mit Hedwig geschehen war und wo sie sich aufhielt.
Gleich bei der ersten Vernehmung erklärte Niemeyer, er wolle die Wahrheit sagen. Er habe Hedwig nicht ermordet, sie sei vor zweieinhalb Jahren an einer Lungenentzündung gestorben.
»Und die Leiche?« fragten die Kriminalisten ungläubig, »wo wäre dann die Leiche?«
»Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen. Sie werden es in fünf Tagen erfahren.«
»Wir müssen es sofort wissen!«
»Warum? Ich habe den Befehl, noch fünf Tage zu warten.«
»Von wem haben Sie den Befehl?«
»Von den Stimmen.«
Die Kriminalisten wussten bereits, dass Niemeyer Leiter eines okkultistischen Zirkels war. Doch sie hatten keine Lust, sich übersinnlichen Befehlen zu unterwerfen. Sie forderten Niemeyer erneut auf, ihnen zu sagen, wo sich Hedwigs Leiche befand. Niemeyer schloss die Augen und bewegte die Lippen. Er hielt stumme Zwiesprache mit den Geistern. Dann öffnete er die Augen: »Ich darf es verraten. Hedwig befindet sich in unserer Wohnung.«
Der Kriminalist F. Volkhardt, der an der Durchsuchung der Wohnung
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