Das Spektrum der Toten
einen hochmodernen Betrieb verschlagen worden.
Der als sensibel bezeichnete junge Mann war dadurch natürlich überfordert, und seine Kopfschmerzen und die Magenbeschwerden waren psychosomatisch. Herkömmliche Medikamente versagten deshalb; es hätte sicherlich einer anderen Behandlung bedurft, die die psychischen Komponenten seiner Erkrankung berücksichtigte. Die vom Betriebsarzt verordnete Kur, die ihn wiederum von zu Hause entfernte, konnte daher auch nicht helfen.
Dass der Großvater nach dem »Besprechen« seiner Schuhe hinkte, lässt sich leicht als Selbstsuggestion erklären. So wie im Fall Mollenhauer dieser das ihm vom Schäfer angekündigte Gesicht der Hexe im Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlaf tatsächlich gesehen haben wollte, war das ebenso eine durch Erwartungsangst bewirkte Zwangstäuschung wie das angebliche Hinken des Großvaters. Intensive Beobachtung führte schließlich zu dem erwarteten Ergebnis.
Das trifft auch auf den bösen Blick zu, der die Beobachter erschauern ließ. Gespreizte Hände gelten als Abwehr gegen böse Geister. Was, wenn der Großvater die intensive, stark bedrohliche Beobachtung durch seine Familie bemerkt und - davon erschreckt - sich mit gespreizten Fingern zu wehren versucht hätte? Die Urinprobe als letzte Bestätigung - sie bewies keine Verhexung, sondern nichts weiter, als dass der Niederschlag im Urin auf eine Erkrankung hindeutete.
Bei Herbert Schäfer, der eine umfängliche wissenschaftliche Untersuchung über okkulte Täter veröffentlicht hat und dem wir auch den Bericht über die beiden Tötungsverbrechen verdanken, findet sich eine Untersuchung darüber, welche Menschen dem Hexenwahn verfallen und welche psychischen Eigenschaften diesen Wahn begünstigen: u. a. Dummheit, Borniertheit, Mangel an Logik, Leichtgläubigkeit, Arglosigkeit, Hoffnung und Erwartung. Der Philosoph Adorno nannte den Okkultismus die Metaphysik der dummen Kerle, der Schweizer Herrn prälogische Geistesverfassung und ein unwissenschaftliches Weltbild.
Aber mit dieser psychischen Voraussetzung allein lässt sich der Hexenglaube nicht erklären. Auch die historischen und sozialen Bedingungen müssen gesehen werden.
Nun ließe sich einwenden, die hier berichteten Tötungsverbrechen lägen Jahrzehnte zurück und seien Einzelfälle. Sie waren keine Einzelfälle. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen gibt es in Deutschland Hunderte von Ortschaften, meist Dörfer, in denen der Glaube an Hexen auch heute noch üppig weiterwuchert.
Eine INFAS-Umfrage Ende der siebziger Jahre ergab, dass 8 % der damaligen Bundesbürger an die Existenz von Hexen und Teufeln glaubten. Eine Umfrage von ISO erbrachte im Saarland 21,7 % Teufelsgläubige. Überdurchschnittlichen Anteil am Teufelsglauben hatten die Grünen und katholischen Gläubigen. Heute dürfte es noch weit mehr Menschen geben, für die Hexen und Teufel reale Wesen sind. Dieser mittelalterliche Wahn findet gerade in den Massenmedien immer wieder seine Bestätigung. Kino, Fernsehfilme, Videos, Groschenhefte und Horrorromane nähren den Glauben an übersinnliche böse Mächte, an Hexen, Zauberer und Dämonen, Wundergänger und Vampire. Selbst die seriöse Leipziger Volkszeitung berichtete 1994 ohne kritische Sicht über einen Leipziger Hexenverein, dem ein »Hexenmeister« und eine »Hexe« als Priester und Priesterin vorstehen. In dem Artikel hieß es: »Wir müssen nichts beweisen«, sagt der Leipziger Hexer, der mit geradem Blick behauptet, Liebeszauber ebenso zu beherrschen wie anderen eine Krankheit anhexen zu können oder mittels Voodoo gar über eine Entfernung hinweg zu töten…
Möglicherweise belächelt der aufgeklärte Mensch diese Erscheinungen, die der Psychologe als »Ausdruck einer krankhaften Erlebnisform, und zwar eines Wahns« bezeichnet (Richtlang, Dr. Täschner, Prof. Wanke). »Als einen durch logische Gegenbeweise nicht zu erschütternden, schlechthin unkorrigierbaren Irrtum.«
Wenn es nur ein Irrtum, ein Aberglaube wäre. Aber beim Abergläubischen, so Schäfer, bedarf es oft nur eines geringfügigen Anlasses, um seine labile Sicherheit zu erschüttern: »Schwere Gewaltverbrechen können die Folge dauernder Angst sein. Hier liegt ja die eigentliche soziale Gefahr des Hexenaberglaubens, dass er Unruhe, Verzweiflung, Angst… erzeugt.«
Dass Hexen nicht nur Opfer verängstigter Hexengläubiger werden können, sondern selber mitschuldig werden an Verbrechen, zeigt ein Fall aus dem Jahr 1982, über den der Augsburger
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