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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gespürt, die ihr das Entkommen unmöglich machten – weiß Gott, das hatte sie -, aber sie wusste, sie war nahe dran gewesen. Das war die wahre Quelle ihrer Verbitterung – nicht die Schmerzen und schon gar nicht der unsichtbare Holzfäller mit seiner kreischenden Motorsäge. Es war das Wissen, dass sie nahe dran gewesen war, aber nicht nahe genug. Sie konnte weiter die Zähne zusammenbeißen und die Schmerzen ertragen, aber sie glaubte nicht mehr, dass es ihr auch nur das Geringste nutzen würde. Die letzten fünf bis zehn Millimeter würden immer höhnisch außerhalb ihrer Reichweite bleiben. Wenn sie weiter zog, würde sie lediglich Ödeme und Schwellungen in den Handgelenken herbeiführen und die Situation nur noch verschlimmern statt verbessern.
    »Und sagt mir nicht, dass ich im Eimer bin, wagt es ja nicht«, sagte sie mit flüsternder, zänkischer Stimme. »Das will ich nicht hören.«
    Du musst irgendwie rauskommen, flüsterte die Stimme des jungen Mädchens zurück. Weil er – es – wirklich wiederkommen wird. Heute Nacht. Wenn die Sonne untergegangen ist.
    »Das glaube ich nicht«, krächzte sie. »Ich glaube nicht, dass der Mann wirklich da war. Der Ohrring und der Fußabdruck sind mir egal. Ich glaube es einfach nicht.«
    Doch.
    Nein.
    Doch.
    Jessie ließ den Kopf auf die Seite sinken, das Haar hing fast bis auf die Matratze, und ihr Mund bebte ganz erbärmlich.
    Ja, sie glaubte es.

26
     
     
     
    Trotz des zunehmend schlimmeren Dursts und ihrer pochenden Arme döste sie wieder ein. Sie wusste, es war gefährlich zu schlafen – ihre Kraftreserven würden weiter schwinden, während sie weg war -, aber was spielte das schon für eine Rolle? Sie hatte alle Möglichkeiten durchgespielt und war immer noch Amerikas Herzblatt in Handschellen. Außerdem wollte sie das herrliche Vergessen – brauchte es sogar, so wie ein Fixer seinen Stoff brauchte. Kurz bevor sie wegdriftete, kam ihr ein einfacher und schockierend direkter Gedanke, der ihren verwirrten, dösenden Verstand wie eine Fackel erhellte.
    Die Gesichtscreme. Das Döschen Gesichtscreme auf dem Regal über dem Bett.
    Mach dir keine Hoffnungen, Jessie – das wäre ein schwerer Fehler. Wenn es nicht ganz vom Regal gefallen ist, als du das Brett gekippt hast, ist es wahrscheinlich an eine Stelle gerutscht, wo du weniger Chancen hast, es zu erreichen, als ein Schneeball in der Hölle. Also mach dir keine Hoffnungen.
    Aber es war so, dass sie sich nicht keine Hoffnungen machen konnte, denn wenn die Gesichtscreme noch da war und wenn sie sie in die Finger bekommen konnte, sorgte sie möglicherweise für genug Schlüpfrigkeit, um eine Hand befreien zu können. Möglicherweise beide, obwohl sie nicht glaubte, dass das erforderlich sein würde. Wenn es ihr gelang, aus einer Handschelle herauszuschlüpfen, konnte sie vom Bett herunter, und sie glaubte, wenn sie vom Bett herunterkonnte, hatte sie es geschafft.
    Es war nur eine kleine Probedose aus Plastik, wie sie sie mit der Post verschicken, Jessie. Sie muss auf den Boden gefallen sein.
    Aber das war sie nicht. Als Jessie den Kopf, so weit sie konnte, nach links gedreht hatte, ohne sich den Hals auszurenken, konnte sie den dunkelblauen Umriss am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung erkennen.
    Sie ist gar nicht da, flüsterte der gehässige, destruktive Teil von ihr. Du glaubst, dass sie da ist, das ist vollkommen verständlich, aber in Wirklichkeit ist sie nicht da. Sie ist nur eine Halluzination, Jessie, du siehst nur, was du sehen möchtest, was dir dein Verstand vorgaukelt. Aber ich nicht; ich bin Realist.
    Sie sah noch einmal hin und drehte sich trotz der Schmerzen noch ein Stück weiter nach links. Statt zu verschwinden, wurde der blaue Umriss kurz deutlicher. Es war tatsächlich das Probedöschen. Auf Jessies Seite des Regals stand eine Leselampe, die nicht vom Regal gerutscht war, weil sie mit dem Holz verschraubt war. Eine Taschenbuchausgabe von Das Tal der Pferde, die seit Mitte Juli auf dem Regal lag, war gegen den Sockel der Lampe gerutscht, und die Nivea-Dose gegen das Buch. Jessie wurde klar, dass ihr Leben möglicherweise von einer Leselampe und ein paar erfundenen Höhlenmenschen mit Namen Ayla und Oda und Uba und Thonolan gerettet wurde. Das war mehr als erstaunlich; es war surrealistisch.
    Selbst wenn sie da ist, kommst du nie hin, sagte die Schwarzseherin zu ihr, aber Jessie hörte es kaum. Sie glaubte, dass sie die Dose erreichen konnte. Sie war fast überzeugt davon.
    Sie drehte die

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