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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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aber sonst nichts – die Welt außerhalb dieses Zimmers hatte eindeutig jegliche Bedeutung für sie verloren. Sie kam sogar zur festen Überzeugung, dass es keine Welt außerhalb dieses Zimmers gab, dass alle Menschen, die sich dort einst getummelt hatten, zu einem existenziellen Besetzungsbüro zurückgekehrt und die Kulissen abgebaut und weggepackt worden waren wie das Bühnenbild nach einer Aufführung der Schultheatergruppe.
    Zeit war ein kaltes Meer, durch das ihr Bewusstsein wie ein plumper grobschlächtiger Eisbrecher pflügte. Stimmen kamen und gingen wie Phantome. Die meisten sprachen in ihrem Kopf, aber eine Zeit lang sprach Nora Callighan aus dem Badezimmer mit ihr, und ein andermal führte Jessie eine Unterhaltung mit ihrer Mutter, die in der Diele zu lauern schien. Ihre Mutter war gekommen, um ihr zu sagen, dass sie nie in diese Lage gekommen wäre, wenn sie ordentlicher mit ihrer Kleidung gewesen wäre. »Wenn ich einen Fünfer für jeden Slip bekommen würde, den ich aus einer Ecke gefischt und richtig herum gekrempelt habe«, sagte ihre Mutter, »könnte ich mir das Gaswerk von Cleveland kaufen.« Das war der Lieblingsspruch ihrer Mutter gewesen, und Jessie überlegte sich erst jetzt, dass keiner sie je gefragt hatte, warum sie das Gaswerk von Cleveland überhaupt wollte.
    Jessie machte weiter erschöpft ihre Übungen, strampelte mit den Füßen und ruderte mit den Armen auf und ab, so weit die Handschellen – und ihre schwindenden Kräfte – es zuließen. Sie machte es nicht mehr, um ihren Körper für eine Flucht bereitzuhalten, wenn sich endlich die richtige Gelegenheit bot, denn sie hatte endlich eingesehen, in Kopf und Herzen, dass es keine Gelegenheiten mehr gab. Das Döschen Gesichtscreme war die letzte gewesen. Sie machte die Übungen nur noch, weil die Bewegung die Krämpfe etwas zu lindern schien.
    Trotz der Übungen konnte sie spüren, wie sich Kälte in Füßen und Händen breitmachte und sich wie eine Eisschicht, die langsam nach innen vordrang, auf die Haut senkte. Es war nicht mit dem Gefühl eingeschlafener Gliedmaßen vergleichbar, mit dem sie heute Morgen aufgewacht war; mehr mit den Erfrierungen, die sie als Teenager einmal nach einem langen Langlaufnachmittag erlitten hatte – schlimme graue Flecken auf einem Handrücken und einer Wade, wo die Strümpfe verrutscht gewesen waren, abgestorbene Stellen, die nicht einmal für die Bruthitze des Kamins empfänglich waren. Sie vermutete, dass diese Taubheit die Krämpfe allmählich ablösen und ihr Tod sich doch als etwas Barmherziges erweisen konnte – als würde man in einer Schneeverwehung einschlafen -, aber es ging alles viel zu langsam.
    Die Zeit verging, aber es war keine Zeit; es war lediglich ein unbarmherziger, unveränderlicher Strom von Informationen, die von ihren schlaflosen Sinnen zum unheimlich klaren Verstand übermittelt wurden. Da war nur das Schlafzimmer, die Szenerie draußen (die letzten Bühnenkulissen, die der Materialverwalter dieser beschissenen kleinen Produktion noch nicht weggeräumt hatte), das Summen der Fliegen, die Gerald in einen spätherbstlichen Brutkasten verwandelten, und die langsame Bewegung der Schatten auf dem Fußboden, während die Sonne über einen Herbsthimmel zog, der wie gemalt aussah. Ab und zu fuhr ihr ein Krampf wie ein Eispickel in eine Achselhöhle oder hämmerte einen stumpfen Stahlnagel in ihre rechte Seite. Während sich der Nachmittag endlos hinzog, setzten die ersten Krämpfe im Magen ein, der schon längst nicht mehr vor Hunger knurrte, sowie in den überbeanspruchten Sehnen des Zwerchfells. Letztere waren die schlimmsten, sie machten die Muskelschicht der Brust starr und drückten auf die Lunge. Sie sah mit gequälten, vorquellenden Augen zu den Wellenspiegelungen an der Decke, und ihre Arme und Beine zitterten vor Anstrengung, während sie zu atmen versuchte, bis der Krampf nachließ. Es war, als wäre sie bis zum Hals in kaltem, nassem Beton begraben.
    Der Hunger verging, aber der Durst nicht, und während sich der endlose Tag um sie drehte, kam sie zur Erkenntnis, dass schlichter Durst (nur das, nichts weiter) das bewerkstelligen konnte, was die zunehmenden Schmerzen und selbst die Aussicht auf ihren bevorstehenden Tod nicht vermocht hatten: Er konnte sie in den Wahnsinn treiben. Es ging jetzt nicht mehr nur um Hals und Mund; jede Faser ihres Körpers schrie nach Wasser. Selbst ihre Augäpfel waren durstig, und sie stöhnte leise, während sie links neben dem Oberlicht

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