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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eigentlich nichts mit dem Vorfall per se zu tun. Was mich wirklich interessiert ist: Gibt es einen Teil von dir – von dem ich nichts weiß -, der sich morgen um diese Zeit den Platz im Bauch des Hundes mit Gerald teilen will? Ich frage nur, weil sich das meines Erachtens nicht nach Loyalität anhört; es hört sich nach Bestrafung an.
    Ihr rannen wieder die Tränen die Wangen hinab, aber sie wusste nicht, ob sie weinte, weil die Möglichkeit endlich ausgesprochen worden war, dass sie hier tatsächlich sterben konnte, oder weil sie zum ersten Mal seit mindestens vier Jahren fast wieder an das andere Sommerhaus gedacht hatte, das am Dark Score Lake, und was dort an dem Tag geschehen war, als die Sonne erloschen war.
    Einmal hatte sie das Geheimnis fast in einer Frauengruppe preisgegeben … das war Anfang der siebziger Jahre gewesen, und sie hatten das Treffen selbstverständlich auf Initiative ihrer Zimmergenossin hin besucht, aber Jessie war bereitwillig mitgekommen, jedenfalls am Anfang; es schien harmlos zu sein, lediglich eine weitere Attraktion im erstaunlich bunten Karneval des College-Betriebs. Für Jessie waren die beiden ersten Jahre am College – besonders mit jemand wie Ruth Neary, die sie durch die Spiele, Attraktionen und Karussellfahrten lotste – größtenteils herrlich gewesen, eine Zeit, als Furchtlosigkeit möglich und Erfolg unvermeidlich erschienen. Es war die Zeit, als kein Schlafsaal ohne Poster von Peter Max vollständig war, und wenn man die Beatles satthatte – nicht dass das bei jemand der Fall gewesen wäre -, konnte man immer etwas von Hot Tuna oder MC-5 auflegen. Alles war ein wenig zu strahlend gewesen, um wahr zu sein, so als würde man es mit einem Fieber sehen, das nicht hoch genug war, um lebensbedrohend zu sein. Tatsächlich waren die ersten beiden Jahre ein Feuerwerk gewesen.
    Das Feuerwerk hatte mit dem ersten Treffen der Frauengruppe geendet. Dort hatte Jessie eine abscheuliche graue Welt entdeckt, die gleichzeitig die Zukunft als Erwachsene in den achtziger Jahren vorwegzunehmen und von düsteren Kindheitsgeheimnissen, die in den sechziger Jahren begraben worden waren, zu flüstern schien … aber nicht in Frieden dort ruhten. Zwanzig Frauen hatten sich im Wohnzimmer des Frauenzentrums neben der Neuworth Interdenominational Chapel eingefunden, manche saßen auf alte Sofas gepfercht, andere in den Schatten der großen und klobigen Ohrensessel, die meisten jedoch in einem ungefähren Halbkreis auf dem Boden – zwanzig Frauen im Alter zwischen achtzehn und über vierzig. Zu Beginn der Sitzung hatten sie sich alle die Hände gereicht und einen Augenblick der Stille geteilt. Als das vorbei war, war Jessie mit grässlichen Geschichten von Vergewaltigung, Inzest und grausamer körperlicher Folter drangsaliert worden. Selbst wenn sie hundert wurde, würde sie nie das ruhige blonde Mädchen vergessen, das den Pullover hochgezogen und die Narben von Zigaretten auf den Unterseiten der Brüste gezeigt hatte.
    Da hatte der Jahrmarkt für Jessie Mahout aufgehört. Aufgehört? Nein, das war nicht ganz richtig, geschweige denn fair. Es war, als wäre ihr ein flüchtiger Blick hinter den Jahrmarkt gewährt worden; als hätte sie die grauen und verlassenen herbstlichen Felder sehen dürfen, die die tatsächliche Wahrheit waren: nichts als leere Zigarettenschachteln und benutzte Kondome und ein paar billige zerbrochene Preise im hohen Gras, die darauf warteten, dass sie entweder fortgeweht oder vom Schnee des Winters zugedeckt wurden. Sie sah die stumme, dumme, sterile Welt, die hinter der dünnen Schicht geflickter Leinwand wartete, die einzige Barriere, die sie vom bunten Tohuwabohu des Jahrmarktsgeländes, dem Muster der Buden und den grellen Farben der Karussells trennte, und das hatte ihr Angst gemacht. Der Gedanke, dass nur das vor ihr lag – nur das, nicht mehr -, war schrecklich; der Gedanke, dass es auch hinter ihr lag, von der geflickten und fadenscheinigen Leinwand ihrer eigenen zurechtgeschusterten Erinnerungen nur unzureichend verborgen, war unerträglich.
    Nachdem sie ihnen die Unterseiten ihrer Brüste gezeigt hatte, hatte das blonde Mädchen den Pullover wieder heruntergezogen und erklärt, dass sie ihren Eltern nicht sagen konnte, was die Freunde ihres Bruders an dem Wochenende, als ihre Eltern nach Montreal gefahren waren, mit ihr gemacht hatten, denn das hätte bedeutet, dass auch herausgekommen wäre, was ihr Bruder schon das ganze vergangene Jahr über mit ihr gemacht

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