Das Spiel
daraus verschwunden, und es konnte kein Zweifel an dem bestehen, was sie jetzt empfand: tiefste, simple Erleichterung. Was immer passiert war – wenn überhaupt -, es war vorbei.
»Daddy …«
»Nein, keine Widerrede. Deine Zeit ist um.«
Er nahm den Stapel rußgeschwärzter Glasscheiben behutsam aus ihrer Hand. Gleichzeitig gab er ihr noch behutsamer einen Kuss auf den Nacken. Dabei sah Jessie in die unheimliche Dunkelheit, die den See einhüllte. Sie merkte am Rande, dass die Eule immer noch schrie und die Grillen genasführt worden waren und ihr Abendlied zwei oder drei Stunden zu früh anstimmten. Ein Nachbrennen schwebte wie eine runde Tätowierung in einem unregelmäßigen Strahlenkranz vor ihren Augen, und sie dachte: Wenn ich zu lange hingesehen, wenn ich meine Netzhäute verbrannt habe, muss ich das wahrscheinlich den Rest meines Lebens sehen, so wie man etwas sieht, wenn einem jemand mit einem Blitzlicht ins Gesicht geleuchtet hat.
»Warum gehst du nicht rein und ziehst Jeans an, Punkin? Ich glaube, das mit dem Sommerkleid war doch keine so gute Idee.«
Er sagte es mit einer dumpfen, emotionslosen Stimme, die anzudeuten schien, das mit dem Sommerkleid wäre ihre Idee gewesen (Selbst wenn nicht, hättest du es besser wissen müssen, sagte die Stimme von Miss Petrie sofort), und plötzlich kam ihr ein neuer Gedanke: Was war, wenn er beschloss, dass er Mama von dem Vorfall erzählen musste? Diese Möglichkeit war so schrecklich, dass Jessie in Tränen ausbrach.
»Es tut mir leid, Daddy«, schluchzte sie, schlang die Arme um ihn und drückte das Gesicht an seinen Hals, wo sie das vage und geisterhafte Aroma seines Rasierwassers oder Parfüms oder was auch immer roch. »Wenn ich etwas falsch gemacht habe, tut es mir wirklich, wirklich leid.«
»Herrgott, nein«, sagte er, aber immer noch mit der dumpfen, geistesabwesenden Stimme, als wollte er entscheiden, ob er Sally erzählen musste, was Jessie getan hatte, oder ob man es möglicherweise unter den Teppich kehren konnte. »Du hast nichts falsch gemacht, Punkin.«
»Hast du mich immer noch lieb?«, beharrte sie. Der Gedanke kam ihr, dass es Wahnsinn war, diese Frage zu stellen, Wahnsinn, eine Antwort zu riskieren, die sie niederschmettern konnte, aber sie musste fragen. Musste.
»Natürlich«, antwortete er augenblicklich. Seine Stimme wurde etwas lebhafter, als er das sagte, und es reichte aus, ihr begreiflich zu machen, dass es ihm ernst war (oh, war das eine Erleichterung), aber sie vermutete trotzdem, dass sich alles verändert hatte, und das wegen etwas, was sie kaum verstand. Sie wusste, die
(Neckerei, es war eine Neckerei, nur eine Art Neckerei)
hatte etwas mit Sex zu tun, aber sie hatte keine Ahnung, wie viel oder wie ernst es gewesen sein mochte. Es war wahrscheinlich nicht das, was die Mädchen bei der Schlummerparty »bis zum Letzten gehen« genannt hatten (abgesehen von der seltsam wissenden Cindy Lessard; die hatte es »Tiefseetauchen mit einer langen weißen Harpune« genannt), ein Ausdruck, der Jessie urkomisch und grässlich zugleich vorkam, aber die Tatsache, dass er sein Ding nicht in ihr Ding reingesteckt hatte, bedeutete wahrscheinlich nicht, dass sie vor dem sicher war, was einige Mädchen selbst an ihrer Schule »einen Braten in der Röhre« nannten.
Ihr fiel wieder ein, was Karen Aucoin ihr letztes Jahr auf dem Heimweg von der Schule gesagt hatte, und Jessie versuchte, es zu verdrängen. Es war mit ziemlicher Sicherheit überhaupt nicht wahr, und selbst wenn, hatte er ihr ja nicht die Zunge in den Mund gesteckt.
Im Geiste hörte sie die Stimme ihrer Mutter laut und wütend: Sagt man nicht, wer gut schmiert, der gut fährt?
Sie spürte den heißen nassen Fleck an den Pobacken. Er breitete sich immer noch aus. Ja, dachte sie, ich glaube, das stimmt. Nur bin ich dieses Mal gut geschmiert worden.
»Daddy …«
Er hob die Hand, eine Geste, die er oft bei Tisch machte, wenn ihre Mutter oder Maddy (für gewöhnlich ihre Mutter) wegen etwas in Rage geriet. Jessie konnte sich nicht erinnern, dass Daddy diese Geste je bei ihr gemacht hätte, und das bestärkte sie in ihrem Gefühl, dass etwas schrecklich schiefgegangen war und es wahrscheinlich grundlegende, unabdingbare Veränderungen als Folge eines schrecklichen Fehlers von ihr (wahrscheinlich, weil sie das Sommerkleid getragen hatte) geben würde. Dieser Gedanke löste ein so umfassendes Gefühl der Traurigkeit aus, dass ihr war, als würden unsichtbare Finger unbarmherzig in
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