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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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drei Scheiben gerußtes Glas als Stapel. Er atmete schwer, und plötzlich tat er Jessie leid. Die Sonnenfinsternis hatte ihm wahrscheinlich auch Angst gemacht, aber er war selbstverständlich ein Erwachsener und durfte so etwas nicht zeigen. Erwachsene waren in vieler Hinsicht bedauernswerte Geschöpfe. Sie überlegte sich, ob sie sich umdrehen und ihn trösten sollte, entschied aber, dass er sich dann noch alberner vorkommen musste. Dass er sich dumm vorkommen musste. Er hatte Jessies vollstes Mitgefühl. Sie hasste es am allermeisten, wenn sie sich dumm fühlte. Daher hielt sie die gerußten Scheiben in die Höhe, dann hob sie langsam den Kopf von der Reflektorbox und sah durch.
    »Now you chicks should all agree«, sang Marvin, »this ain’t the way it’s s’posed to be. So lemme hear ya! Lemme hearya say YEAH, YEAH!«
    Was Jessie sah, als sie durch den improvisierten Filter blickte...

17
     
     
     
    An diesem Punkt wurde der Jessie, die im Sommerhaus am Ufer des Kashwakamak Lake mit Handschellen ans Bett gefesselt war, der Jessie, die nicht zehn, sondern neununddreißig und seit fast zwölf Stunden Witwe war, plötzlich zweierlei klar: dass sie schlief und dass sie nicht vom Tag der Sonnenfinsternis träumte, sondern ihn noch einmal durchlebte. Sie hatte eine Zeit lang gedacht, es wäre ein Traum, nur ein Traum, wie ihr Traum von Wills Geburtstagsparty, wo die meisten Gäste entweder tot oder Menschen gewesen wären, die sie erst Jahre später kennenlernen sollte. Dieser neue Film im Kopf besaß die surrealistische, aber sensible Eigenheit des vorherigen, aber das war ein unzuverlässiger Meilenstein, weil der ganze Tag surrealistisch und traumgleich gewesen war. Zuerst die Sonnenfinsternis und dann ihr Vater …
    Nicht mehr, entschied Jessie. Nicht mehr, ich steige aus.
    Sie unternahm eine konvulsivische Anstrengung, aus dem Traum oder der Erinnerung oder was auch immer zu entkommen. Ihre geistigen Anstrengungen führten zu Zuckungen des ganzen Körpers, und die Ketten der Handschellen klirrten gedämpft, während sie sich heftig hin und her warf. Sie hätte es fast geschafft; einen Augenblick war sie fast draußen. Und sie hätte es geschafft, hätte es schaffen können, wenn sie es sich nicht im letzten Moment anders überlegt hätte. Die Einsicht hielt sie auf, dass auf der anderen Seite des Traums schlimmere Dinge auf sie warteten, Dinge, neben denen sich die Ereignisse jenes Tages auf der Veranda vergleichsweise unbedeutend ausnehmen würden … das hieß, wenn sie sich ihnen stellte.
    Aber ich will mich ihnen nicht stellen. Noch nicht.
    Aber vielleicht war der Wunsch, sich zu verstecken, nicht alles – vielleicht war da noch etwas anderes im Spiel. Ein Teil von ihr, der beschlossen hatte, alles jetzt ein für alle Mal ans Licht zu bringen, koste es, was es wolle.
    Sie sank wieder auf das Kissen zurück, ließ die Augen geschlossen, die Arme wie zum Opfer hochgestreckt, das Gesicht bleich und vor Anstrengung verkniffen.
    »Especially you girls«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Especially you girls.«
    Sie sank auf das Kissen zurück, und der Tag der Sonnenfinsternis zog sie wieder in seinen Bann.

18
     
     
     
    Was Jessie durch ihre Sonnenbrille und den improvisierten Filter sah, war so seltsam und ehrfurchtgebietend, dass ihr Verstand sich zuerst weigerte, es anzuerkennen. Ein großer runder Schönheitsfleck, wie der unter Anne Francis’ Mundwinkel, schien dort am Nachmittagshimmel zu schweben.
    »If I talk in my sleep …’cause I haven’t seen my baby all week …«
    An diesem Punkt bemerkte sie zum ersten Mal, dass ihr Vater eine Hand auf die Knospe ihrer rechten Brust gelegt hatte. Er drückte sie einen Moment behutsam, glitt zur linken und kehrte wieder zur rechten zurück, als würde er einen Größenvergleich anstellen. Er atmete jetzt sehr schnell; sein Atem klang in ihren Ohren wie eine Dampfmaschine, und sie bemerkte wieder das harte Ding, das gegen ihre Kehrseite drückte.
    »Can I get a witness?«, sang Marvin Gaye, die Galionsfigur des Soul, brüllend. »Witness, witness?«
    »Daddy? Alles in Ordnung?«
    Sie spürte wieder ein feines Kribbeln in den Brüsten – Lust und Schmerz, gebratener Truthahn mit Zuckerguss und Schokoladensoße -, aber dieses Mal verspürte sie auch Schrecken und eine Art fassungsloser Verblüffung.
    »Ja«, sagte er fast mit der Stimme eines Fremden. »Ja, bestens, aber dreh dich nicht um«. Er bewegte sich. Die Hand, die auf ihrer Brust gewesen war,

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