Das Spiel
beinah in Tränen ausbrach, als Pelaya sie fragte, aber sie hatte auch keine Ahnung. Pelaya tigerte in der Eingangshalle auf und ab und dachte nach. Es schien ihr immer wahrscheinlicher, dass niemand auch nur einen Gedanken an Olin Eddon verschwendet hatte. Sie ging wieder zu ihrer Mutter, aber Ayona Akuanis hatte ihr jüngstes Kind beruhigen wollen, das die ganze Nacht geschrien hatte, und darüber waren Mutter und Kind erschöpft eingeschlafen.
Pelaya betrachtete das Gesicht ihrer Mutter. So jung und schön wirkte es jetzt, da der Schlaf ihr sorgenvolles Herz für eine Weile besänftigt hatte. Pelaya brachte es nicht über sich, sie zu wecken. Stattdessen setzte sie sich an den Schreibtisch ihrer Mutter und schrieb einen Brief in einer so gestochenen Handschrift, dass Schwester Lyris stolz darauf gewesen wäre — wenn auch nicht auf den Inhalt des Schreibens. Den Umschlag verschloss Pelaya mit Wachs und dem Siegel ihrer Mutter.
Sie fand Eril und drei der niederen Diener dabei, wie sie das Chaos in der Vorratskammer zu ordnen versuchten. Die Familie Akuanis war noch nie so früh im Jahr in das Haus beim Markt gezogen, und der Haushalt war auf die überstürzte Umsiedlung nicht vorbereitet gewesen.
»Ich möchte, dass du diesen Brief zur Festung bringst«, erklärte sie Eril. »Und dass du jemanden von dort hierher bringst.«
Eril sah sie so herablassend an, wie er es der Tochter seines Herrn gegenüber irgend wagen konnte. »Zur Festung,
Kuraion?
Lieber nicht. Das ist zu gefährlich. Was braucht Ihr denn so dringend? Wir haben doch alles mitgenommen.«
»Ich sagte nicht
etwas,
sondern
jemanden.
Er ist ein König, ein bedeutender Mann, und der Protektor hat ihn im Gefangenenturm einfach dem Tod überlassen.«
»Das ist keine Aufgabe für einen wie mich — solange es Euer Vater nicht persönlich befiehlt«, sagte er mit der Resolutheit eines alten Dieners, der lange Jahre immer wieder mit dem ganzen Einfallsreichtum, den junge Mädchen aufzubieten wissen, beschwatzt und bemogelt worden ist.
»Aber du musst!«
»Ach ja? Wollen wir mal hören, was
Kura
Ayona dazu sagt?«
»Sie schläft und darf nicht gestört werden.« Pelaya sah ihn beschwörend an. »Bitte, Eril! Papa kennt diesen Mann und würde auch wollen, dass er gerettet wird!«
Der Diener legte die Finger auf seine Stirn, so wie die
Onirai,
wenn sie ihren Verfolgern keinerlei Beachtung schenkten, während sie gerade mit den Göttern kommunizierten. »Ihr wollt, dass ich für einen ausländischen Gefangenen mein Leben aufs Spiel setze? Ihr seid sehr grausam zu mir,
Kuraion.
Wartet, bis Euer Vater zurückkommt, dann werden wir hören, was er wünscht.«
Sie starrte ihn hasserfüllt an. Sie wusste, selbst wenn sie Eril auf irgendeine Weise zwingen würde, sich auf den Weg zu machen, war noch lange nicht gesagt, dass er ihren Anweisungen nachkommen würde — er war so stur, wie es nur ein alter Familienbediensteter sein konnte. Der Zitadellenhügel war ein einziges Chaos, und Eril konnte einfach behaupten, irgendwie aufgehalten worden zu sein.
Ihr Herz raste — jeder Kanonenschuss konnte der sein, der den armen Olin Eddon unterm Schutt des Gefangenenturms begraben würde. Sie würde selbst gehen müssen, aber schon unter normalen Umständen wäre es sowohl skandalös als auch gefährlich, ganz allein quer durch die Stadt zu laufen. Sie brauchte so etwas wie eine bewaffnete Eskorte.
»Na schön«, sagte sie schließlich, drehte sich um und stapfte davon. Sie hatte einen Plan, und es schockierte sie selbst, dass sie so etwas denken konnte, geschweige denn, sich auch noch daran machte, es umzusetzen. Aber wenn sie nicht davor zurückgeschreckt war, einen Brief ihrer Mutter zu fingieren, würde sie sich von einem widerspenstigen Diener schon gar nicht aufhalten lassen.
Unten an der Straße blieb sie am Tor der Nachbarn stehen, einer wohlhabenden Familie namens Palakastros. Wie üblich hatte sich dort ein Grüppchen Bettler eingefunden. Im Unterschied zu Pelayas geiziger Mutter war die Herrin des Hauses Palakastros eine reiche alte Witwe, die sich Gedanken darüber machte, was ihr nach dem Tod widerfahren würde, und daher jeden Tag etwas Essen von ihrer eigenen Tafel vors Tor hinausbringen ließ. Kein Wunder also, dass sich dort fast immer Alte und Kranke versammelten, sehr zum Ärger von Ayona Akuanis und den übrigen Hausherrinnen an der langen, gewundenen Straße. Wegen der Belagerung waren heute zwei- oder dreimal so viele Menschen da wie
Weitere Kostenlose Bücher