Das Spiel
die Sonne aus dem Himmelsquadrat über dem Innenhof verschwand und die Frauen des
Hadar
ihre Neugier befriedigt hatten und wieder hineingegangen waren, beendete Shaso die Lektion. Brionys Arme und Beine zitterten vor Erschöpfung und wollten sich gar nicht wieder beruhigen.
»Für heute sind wir fertig«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. »Aber morgen werden wir weitermachen und an den folgenden Tagen ebenfalls, so lange, bis ich nachts ruhig schlafen kann.« Er packte die Holzpflöcke wieder in das Öltuchbündel. Etwas darin klirrte, aber er schloss rasch die Umhüllung, sodass sie nicht sehen konnte, was es war. »Dies ist nicht mehr die Welt, die Ihr kanntet, Briony Eddon. Dies ist keine Welt mehr, die irgendjemand kennt, und was aus ihr wird, muss sich erst noch zeigen. Eure Rolle dabei mag gewichtig oder auch nur schwer sein, aber ich habe einen Treueschwur auf Eure Familie geleistet, und ich will, dass Ihr lebt, um diese Rolle zu spielen.«
Sie wusste nicht recht, was er meinte, doch als sie den alten Mann anblickte und sah, dass trotz seiner scheinbaren Unerschütterlichkeit seine Hände ebenso zitterten wie ihre und sein Atem schnell und flach ging, erfüllte sie Schmerz und so etwas wie Liebe. »Es tut mir leid, dass wir Euch in den Kerker geworfen haben, Shaso. Ich schäme mich so.«
Er sah sie merkwürdig an, nicht ärgerlich, sondern wie aus weiter Ferne. »Ihr habt getan, was Ihr tun musstet. Wie wir es alle tun, vom Bedeutendsten bis zum Geringsten. Selbst der Autarch in seinem Palast ist nur ein Lehmpüppchen in den Händen der Großen Mutter.« Er klemmte das Bündel unter den Arm. »Geht jetzt. Ihr habt Eure Sache gut gemacht — für eine Frau sogar sehr gut.«
Der Moment der Zärtlichkeit zerbarst in einem Ausbruch von Ärger. »Das sagt Ihr dauernd. Warum sollte eine Frau nicht so gut kämpfen können wie ein Mann?«
»Manche Frauen können durchaus so gut kämpfen wie manche Männer, Kind«, sagte er mit einem bitteren Lächeln. »Aber Männer sind größer, Briony, und kräftiger. Wisst Ihr, was ein Löwe ist? Das ist eine große Katze, die in den Wüsten in der Nähe meines Landes lebt.«
»Ich habe schon mal einen gesehen.«
»Dann kennt Ihr ja seine Größe und Stärke. Das Löwenweibchen ist eine große Jägerin, grimmig und gefährlich und geschickt im Töten.
Sie reißt die Gazelle und zerfetzt die bellenden Schakale, die sich von ihrer Beute nähren wollen. Aber sie lässt dem männlichen Löwen immer den Vortritt.«
»Aber ich will gar kein männlicher Löwe sein«, sagte Briony. »Ich wäre schon zufrieden damit, die bellenden Schakale zu verjagen.«
Shasos Lächeln wurde freundlicher, fast schon friedfertig. »Dazu immerhin müsste ich Euch verhelfen können. Geht jetzt, wir sehen uns morgen früh.«
»Sehen wir uns denn nicht beim Essen?«
»In diesem Haus essen Männer und Frauen nicht gemeinsam zu Abend. Das ist nun mal so Sitte in Tuan.« Er wandte sich ab und ging nur mit dem Hauch eines Hinkens davon.
Dan-Mozans Neffe wartete im Gang auf sie. Sie stöhnte leise, als er sich von der Wand löste, an der er gelehnt hatte, den Blick abgewandt, als hätte er sie noch gar nicht bemerkt und schon gar nicht ihretwegen dort gestanden. Sie wollte nichts weiter, als in ein heißes Bad steigen, damit der Dampf den Schmerz aus ihren Muskeln und den Dreck von ihren zerschundenen Knien und Füßen löste. »Ihr tragt meine Kleider«, sagte Talibo.
»Ja, und ich danke Euch dafür. Euer Onkel hat sie mir geliehen.«
»Warum?«
»Weil der Edle Shaso wollte, dass ich mich im Messerkampf übe.« Als sie sein ungläubiges Gesicht sah, musste sie ihre Zunge im Zaum halten. Wie konnte er es wagen, sie so anzusehen — Briony Eddon, eine Prinzessin der gesamten Markenlande? Er war nicht älter als sie. Zugegeben, er war ein ganz hübscher Junge, dachte sie angesichts seiner glänzend braunen Augen und des Flaumbärtchens auf seiner Oberlippe, aber eben doch nur ein Junge — was man daran sah, wie sein Gesicht jede Regung verriet. Bei seinem Anblick konnte sie sich vorstellen, wie Ludis' Gesandter, Dawet dan-Faar, einmal ausgesehen haben musste, mit dem gleichen jugendlichen Stolz in den Zügen. Unbegründetem Stolz, dachte sie ärgerlich: Was hatte dieser braunhäutige Junge je getan, hier in diesem Haus, umgeben von Frauen, die sich ihm unterordneten, nur weil er kein Mädchen war? »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Habt noch einmal Dank, dass
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