Das Spiel
sehen sollte. Chert dachte an all das, was sie gemeinsam durchgemacht hatten, und fühlte Zorn in sich aufwallen. Er und Opalia hatten Chaven in ihrem Heim Zuflucht gewährt und ihn gesund gepflegt — aber jetzt war nicht der Moment zum Streiten. Chert drehte der Tür den Rücken zu.
Er hörte ein leises Schleifen, als ob etwas Schweres über etwas anderes glitt, dann das Aufschnappen einer Verriegelung, und gleich darauf fühlte er, wie ihn Chaven an der Schulter berührte. Die Tür stand jetzt ein, zwei Fingerbreit offen, und durch den Spalt fiel Licht in den dunklen Tunnel. Chaven beugte sich dicht an den Spalt heran — er wirkte wie ein Verhungernder, der Essen riecht, aber noch nicht weiß, wie er drankommen kann. Chert hielt den Atem an und lauschte.
Endlich richtete Chaven sich auf, nickte und schlüpfte durch die Tür. Chert beeilte sich, ihm durch den steinernen Korridor zu folgen und mit dem Korallenlicht den Weg auszuleuchten. Chaven blieb vor einem uralten Wandteppich stehen, der so verschossen und verschimmelt war, dass man die darauf dargestellte Szene nicht mehr zu erkennen vermochte — welch deplatziertes Stück an einem so einsamen, fensterlosen und dazu noch feuchten Ort. Chaven zögerte kurz, die verbrannte Hand erhoben, als wollte er Chert bedeuten, sich wieder umzudrehen. Doch dann siegte seine Ungeduld. Er hob den Wandteppich an, schlüpfte dahinter und ließ den Teppich wieder los. Im nächsten Moment verschwand die Beule im Teppich, als ob der Arzt sich einfach in Luft aufgelöst hätte.
Obwohl ihn gruselte, wollte Chert hinter dem Wandteppich nachsehen, doch plötzlich hörte er etwas. So leise er konnte, schlich er den Gang entlang, an dem Wandbehang vorbei und zum Fuß der Treppe. Er blendete seine Laterne ab, und der Gang versank in fast völligem Dunkel. Er lauschte.
Da waren Stimmen! Sie kamen von irgendwo weiter oben. Chavens Dienstboten, die in seiner Abwesenheit das Haus in Ordnung hielten? Chert glaubte nicht recht daran.
Ein gespenstisches Stöhnen ließ ihn erschrocken zusammenfahren. Er sah sich angstvoll um, aber da war niemand. Er lief zurück zum Wandteppich, hob ihn an und entdeckte eine Geheimtür, die nur angelehnt war. Da war das Geräusch schon wieder, jetzt lauter: Es klang wie das gedämpfte Klagen einer verlorenen Seele. Chert nahm seinen ganzen Mut zusammen und stieß die Tür auf.
Chaven lag in einem Haufen aus zusammengeknülltem Stoff auf dem Boden und krümmte sich, als hätte ihn ein Messerstecher erwischt. Chert stürzte auf ihn zu, drehte ihn vorsichtig um, konnte aber keine Wunde entdecken.
»Alles vorbei!«, stöhnte der Arzt. Obwohl er leise sprach, schienen seine Worte Chert so laut wie ein Schrei. »Alles vorbei! Sie haben ihn mitgenommen ...!«
»Leise«, zischte der Funderling. »Da oben ist jemand!«
»Sie haben ihn!« Chaven setzte sich auf, sah mit irrem Blick um sich und kämpfte gegen Cherts Arme an wie jemand, der miterlebt, wie sein einziges Kind geraubt wird. »Wir müssen sie aufhalten!«
»Seid still, sonst bringt Ihr uns beiden den Tod!«, flüsterte Chert unwirsch in das Ohr des Arztes und hielt den viel größeren Mann mit aller Kraft fest. »Das könnte die gesamte Königliche Garde sein, die Euch auf den Fersen ist.«
»Aber sie haben ihn gestohlen ... ich bin am Ende!« Chaven schluchzte jetzt. Chert konnte kaum glauben, was er sah: Plötzlich hatte sich der Mann, den er so lange gekannt und geachtet hatte, in ein heulendes Kind verwandelt.
»Was haben sie gestohlen? Wovon sprecht Ihr?«
»Wir müssen horchen. Wir müssen hören, was sie sagen.« Es gelang Chaven, den Funderling abzuwerfen, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich von schierem Wahnsinn in etwas Kalkulierenderes verwandelt. Er kroch davon, ehe Chert seine Beine sortieren konnte, und gleich darauf war er schon unter dem Wandteppich durch und draußen im Gang. Chert stürzte hinterher.
Der Arzt stand am Fuß der Treppe und legte sich den Zeigefinger auf die Lippen, um dem Funderling zu bedeuten, er solle still sein — eine unnötige Geste, denn Chert war zu Tode verängstigt, nicht nur wegen der Gefahr selbst, sondern auch weil Chavens Verhalten so irre wirkte. Der Arzt zitterte, aber es wirkte eher wie Wut denn wie die begründete Angst, ergriffen, ins Gefängnis geworfen und mit großer Sicherheit hingerichtet zu werden.
Und was wird aus mir?,
fragte sich Chert unwillkürlich.
Wenn sie Chaven töten, den Hofarzt, was werden sie dann wohl mit einem kleinen
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