Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
hatte er sie mit Mühe überzeugen können, dass dies der einzige Weg war, um Anne zu helfen. Aber Janet war alles andere als glücklich über die Rolle, die ihr hier zugefallen war. Sie duldete den Arm ihres Gemahls und seine Hand auf ihrer Hüfte, aber er fühlte, dass sie steif wie ein Brett war. Er kam zudem Schluss, dass der Haussegen immer noch mächtig schief hing, und unterdrückte ein Seufzen.
Janet sah in einige der verschlossenen Gesichter, die ihr ausnahmslos zugewandt waren, dann faltete sie den Brief auseinander und senkte den Blick darauf: »Ich beschränke mich auf das Wesentliche, Mylords. Anne Neville und ihre Mutter, die Countess of Warwick, befanden sich in Canterbury, als dieser Brief verfasst wurde, und sind jetzt vermutlich bereits auf See. Anne hat dies in aller Eile vor ihrem Aufbruch geschrieben: Wir müssen England verlassen, aus unserer Heimat fliehen wie Verräter. Alles ist verloren, Janet, und wir wissen nicht mehr weiter. Vater wollte mit meiner Schwester Isabel und ihrem Gemahl Clarence nach Calais übersetzen, aber der Kommandant der Garnison, die ihm doch immer treu ergeben war, verbot ihm zu landen. Als er es trotzdem versucht hat, haben sie mit ihren Kanonen auf sein Schiff geschossen, ist das zu fassen? Über die ganze Aufregung begannen bei meiner armen Schwester die Wehen. Vater schickte dem Kommandanten auf der Burg Nachricht und bat, man möge Isabel an Land lassen oder wenigstens eine Hebamme schicken. Doch alles, was sie bekamen, war ein Krug Wein für die Wöchnerin. Mutterseelenallein unter Männern und an Bord eines Schiffes musste meine Schwester die Geburt ihres ersten Kindes durchstehen, und nach einem halben Tag und einer Nacht gebar sie einen toten Sohn. Sie bestatteten ihn auf See, drehten ab und segelten nach Westen, in die Normandie. Jetzt bleibt uns nur noch zu hoffen, dass der König von Frankreich sich in der Not als ebenso guter Freund erweist wie in den guten Zeiten der Vergangenheit .«
Janet brach ab und schluckte. Julian wusste, warum. Er hatte gelesen, wie der Brief weiterging, hatte die Tränenspuren in der zerlaufenen Tinte gesehen: Dies ist die dunkelste Stunde meines Lebens. Und meine Mutter ist starr und kalt vor Zorn über alles, was passiert ist, man kann kaum mit ihr reden. Aber ich muss immerzu an Isabel und ihr totes Kind denken und an Vater. Wie verzweifelt sie sein müssen. Ich bete zu Gott, dasswir bald bei ihnen sein werden, denn ich weiß, sie brauchen mich. Und ich bete, dass meine Schwester nicht stirbt. Ich wünschte nur, du wärst hier, Janet. Ich bin so allein, und ich habe solche Angst vor dem, was nun kommen wird. Bete für uns. In Liebe, Anne .
Obwohl sie diese letzten Sätze nicht hörten, schwiegen die Lancastrianer betreten. Einige hatten sich gar verstohlen bekreuzigt, als sie von der Totgeburt hörten.
Janet nickte knapp in die Runde. »Wenn Ihr mich entschuldigt, Mylords.« Sie hob den Rock mit der freien Linken ein wenig an, denn sie trug ein Kleid, das nach der neuesten Mode zwei oder drei Spann mehr als Bodenlänge hatte. Als sie zur Tür ging, zog sie den Rock in einer eleganten Schleppe hinter sich her, und es sah aus, als schwebe sie.
Lucas machte Platz, damit sie hinaustreten konnte, und schloss lautlos die Tür.
»Tja«, sagte Ned Beaufort in die Stille hinein. »Ich gebe zu, dass das alles ändert.«
Oxford nahm wieder Platz und nickte versonnen. »Man könnte beinah in Versuchung geraten, Warwick zu bedauern. Kanonenkugeln statt Trompetenstöße zur Begrüßung in Calais und kein Enkel von yorkistischem Geblüt. Das ist bitter. Die junge Anne hat Recht: Jetzt bleibt ihm nur, den König von Frankreich an seine großen Versprechen von einst zu erinnern.«
»Und der König von Frankreich betrachtet den yorkistischen König von England als Feind, seit der seine Schwester dem Herzog von Burgund zur Frau gegeben hat«, erinnerte Julian sie. »Eine Allianz zwischen Frankreich, Warwick und dem Haus Lancaster wäre nach Lage der Dinge die natürlichste Konsequenz. Warwick bleibt gar keine andere Wahl mehr.«
»Ich habe Zweifel, dass er sich je dazu überwinden könnte«, sagte Hal.
»Doch, doch«, widersprach Oxford gelassen. »Es gibt praktisch nichts, wozu er sich nicht überwinden könnte, um seine Macht zu erhalten.«
Ned Beaufort hielt es nicht länger auf seinem Sessel. Nervös stand er auf, trat ans Fenster, starrte einen Moment blicklos in die Tintenschwärze hinter den Butzenscheiben und wandte sich
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