Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
tun. Leben oder sterben? Im Grunde war die Sache ganz einfach. Eigentlich stellte die Frage sich überhaupt nicht. Leben bedeutete Unfreiheit, den Verlust von Land, Titel, Ehre und all den anderen Dingen, ohne die ein Edelmann nicht existieren konnte, und vor allem Schuld.
Lucas ließ ihn nicht aus den Augen, schien ein ganzes Arsenal an Argumenten zu sammeln, um Julian zu überzeugen, sobald der den Mund aufmachte, um den Doktor fortzuschicken.
Doch als Mortimer nach einer Viertelstunde mit einer Kohlenpfannezurückkam, hatte Julian immer noch nichts gesagt. Er war zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen, ob es feige oder ehrenhaft gewesen wäre, aus dem Leben zu scheiden. Er wusste nur, dass er nicht konnte. Nicht freiwillig.
Endlich hob er den Kopf und nickte Lucas zu. »Wenn ich dir hierfür eines Tages dankbar sein sollte, lass ich es dich wissen.«
Lucas grinste schwach. »Das hat keinerlei Eile, Mylord.«
Master Woodroff krempelte die Ärmel auf. Er rollte sein Metzgerbesteck aus, wählte nach kurzem Zögern ein Messer mit einer breiten, matten Klinge und schob es zwischen die glühenden Kohlen.
Mit sanften, leicht bebenden Fingern half Mortimer seinem Herrn aus Wams und Hemd, und als sein Blick auf das weißlich violette, faulige Fleisch fiel, das die Pfeilwunde umgab, wandte er den Kopf hastig ab.
Julian war selber ziemlich mulmig, aber er zwinkerte dem Knappen zu. »Das ist nicht das Ende der Welt, Mortimer. Warte draußen. Und wenn du mich brüllen hörst, denk dran, dass Sir Lucas einen Yorkisten zwingt, einem Lancastrianer das Leben zu retten. Das ist ein hübscher Gedanke, oder?«
Ein befreites Lächeln huschte über Mortimers bleiches Gesicht. »Das ist wahr, Mylord.«
Master Woodroff schnaubte gallig. »Ich bin gespannt, ob Ihr gleich auch noch so große Worte führt, Waringham.«
»Wenn ich das Gefühl hab, dass Ihr es schlimmer als nötig macht, hetz ich Euch die dunklen Bruderschaften auf den Hals, Doktor«, warnte Lucas finster.
»Die was?«, fragte Julian verwirrt.
Er bekam keine Antwort, aber er sah, dass die Drohung Wirkung zeigte. Plötzlich fürchtete der gelehrte Doktor sich mehr als er.
Mortimer ging hinaus, und Lucas rief ihm nach: »Bestell dem Sergeant einen Gruß von mir und sag, wir hätten hier gern einen Becher ordentlichen Wein.«
»Wird gemacht, Sir Lucas.«
Die Klinge des Messers war breit, aber dünn – es dauerte nicht lange, bis sie zu glühen begann. Doktor Woodroff ließ es sich nicht nehmen, sie Julian zu zeigen, als er sie aus dem Feuer holte. Die Ränder waren weiß, die Mitte rot wie ein Sonnenuntergang über der See.
Julian hätte gern verächtlich ausgespuckt, aber sein Mund war wieder staubtrocken. Lucas reichte ihm ein Holzbrettchen, das er unerlaubt aus der Ledertasche des Arztes genommen hatte und das schon eine Vielzahl von Bissspuren aufwies. Julian nahm es zwischen die Zähne, richtete sich auf die Knie auf und legte Lucas, der ihm gegenüber kniete, die Hände auf die Schultern. Lucas packte seine Unterarme und nickte dem Arzt zu.
»Wir wären so weit, Doktor.«
Mit einem Lächeln und einer perversen Zärtlichkeit presste Woodroff die glühende Klinge auf die obere Hälfte der Wunde. Es zischte, Julians Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Leids, und er bleckte die Zähne, aber nur ein schwacher Laut, eine Art wütendes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Er krallte die Hände in Lucas’ Schultern und klammerte sich an den Vorsatz, diesem verfluchten yorkistischen Quacksalber keine Handbreit Boden mehr als unbedingt nötig abzutreten. Als der die Klinge umdrehte und auch die untere Hälfte der Wunde ausbrannte, konnte Julian einen Schrei nicht ganz unterdrücken, aber sofort biss er fester zu und schnitt ihn ab.
Ein widerwärtiger Geruch von verbranntem Fleisch und Eiter erfüllte das feuchte Kellerloch, sodass er zusätzlich zu seinem Schmerz auch noch mit Übelkeit zu ringen hatte. Schweiß rann ihm jetzt in Strömen über Brust und Rücken, stand eisig auf seiner Stirn, und er sackte in sich zusammen, sodass Lucas einen Moment sein ganzes Gewicht halten musste. Aber dann war es vorbei. Woodroff nahm die Klinge von der Wunde. Sie brannte immer noch, aber der glühende Schmerz ebbte ein wenig ab, und Julian entspannte sich.
Lucas, der kaum weniger in Schweiß gebadet war, ließ ihn los, nahm ihm das Holzstück aus dem Mund und rieb sich mitder freien Linken das rechte Schlüsselbein. »Junge, Junge. Ich dachte, du brichst sie durch
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