Das Spiel der Könige - Gablé, R: Spiel der Könige
abgab. Dabei war es gerade dieses Beispiel, das Alice die meiste Angst machte, denn ihre Tante Blanche lebte nur in einem Anschein von Normalität mit ihrem Geliebten und ihrer Kinderschar. Sollten sie je aus dem Exil heimkehren können, wäre sie in England verfemt. Ihre Kinder würden nur ein Schattendasein am Rande der adligen Gesellschaft führen können. Und jetzt, da Blanche älter wurde, musste sie nicht befürchten, dass Jasper Tudor sich einer anderen Frau zuwenden, vielleichtgar heiraten wollte. Ob Blanche nicht manche Nacht wach lag und sich vor ihrer ungewissen Zukunft fürchtete? Ob ihr nicht vor der ewigen Verdammnis graute, die ihr nach einem Leben in Sünde drohte?
Dennoch war Alice entschlossen gewesen, den gleichen Weg einzuschlagen. Aber ehe sie dieses skandalöse Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, hatte ihr Vater sie nach England verschleppt. Und jetzt quälte sie der Verdacht, dass ihr Plan, den sie für so geheim gehalten hatte, für alle offensichtlich gewesen sein könnte. Dass ihr Vorgehen nicht diskret, sondern plump gewesen sei. Dass sie sich Richmond an den Hals geworfen und ihr Vater sie weggebracht hatte, damit das peinliche, erbärmliche Schauspiel ein Ende nahm. Dass Richmond jetzt in Vannes am Feuer saß und sich mit einem kleinen mitleidigen Lächeln, aber voller Erleichterung über ihr Verschwinden an sie erinnerte. Die Scham bei dieser Vorstellung verursachte ihr Bauchkrämpfe. Ihr war danach, sich in den Tain zu stürzen und zu ertrinken, damit sie die Schande nicht mehr spüren musste. Aber die Schneeschmelze war lange vorbei und der Bach führte nicht wirklich genug Wasser, und außerdem …
Ein vielstimmiges Kinderlachen riss sie aus ihrer Düsternis, und sie blieb stehen. Es war kein besonders unschuldiges, fröhliches Gelächter, sondern klang rau und hämisch, und sie vernahm nur Jungenstimmen. Dann hörte sie ein gruseliges Heulen, und im nächsten Moment kam über die Kuppe des Mönchskopfes ein Licht und hielt mit großer Geschwindigkeit auf sie zu.
Als es sich näherte, erkannte sie ein paar Schatten, und dann begriff sie, was sie sah, auch wenn sie sich keinen Reim darauf machen konnte: Ein großer, hagerer Mann kam schreiend auf sie zugerannt. Er zog einen brennenden Ast hinter sich her, der offenbar an seinem Gürtel festgebunden war. Alice hätte das bizarre Schauspiel für eins der merkwürdigen Walpurgisrituale dieser Menschen hier gehalten, hätte nicht das nackte Grauen in den Augen des Mannes gestanden. Und hätten ihn die Flegel,die sie hatte lachen hören, nicht verfolgt und mit Steinen und Dreckklumpen beworfen.
Ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, stellte Alice sich dem Fliehenden in den Weg. Erwartungsgemäß rannte er sie über den Haufen, denn in seiner Panik war er außerstande, die Gestalt im Mondlicht zu erkennen.
Alice wurde hart ins Gras geschleudert und riss ihn mit sich zu Boden, klammerte die Hände um seinen Arm und rollte ein Stück mit ihm bergab. Seine Schreckensschreie steigerten sich zu einem schrillen Winseln. Alice ließ ihn nicht los, selbst als der Geruch ihres versengten Haares ihr warnend in die Nase stieg. Noch ehe sie ausgerollt waren, nahm sie die Rechte von seinem Arm und riss ihm mit einem Ruck den Stoffgürtel vom Leib. Unter unartikuliertem Gejammer befreite er sich von ihr, sprang wieder auf die Füße und floh.
Alice rief ihm nach: »Schau dich um! Das Feuer ist weg!« Sie war außer Atem.
Er schien sie nicht zu hören. Unter dem grölenden Gelächter seiner Peiniger rannte er weiter, bis er über die eigenen Füße stolperte und der Länge nach hinschlug.
Alice stand auf und trat auf die kleinen Plagegeister zu. »Was fällt euch ein, ihr Unholde! Was denkt ihr euch nur dabei?«
Natürlich wussten sie, wer sie war.
»Ach, Lady Alice, er ist so ein Schwachkopf!«, entgegnete der Rädelsführer lachend. »Mit dem darf man ruhig ein bisschen Schabernack treiben, der ist nicht so wie wir. In einer Viertelstunde hat er’s vergessen.«
»Wirklich?«, entgegnete sie wütend. »Aber ich nicht, Bübchen. Und ich wüsste jetzt gern, wer dein Vater ist.«
Dem kleinen Anführer wurde mulmig.
»Na los, wird’s bald?«, hakte sie nach.
Der Junge wechselte einen verstohlenen Blick mit seinen Freunden, dann machten sie auf dem Absatz kehrt und flohen in die Dunkelheit.
Alice sah ihnen mit einem unwilligen Kopfschütteln hinterher, dann ging sie zu der erbarmungswürdigen Kreatur, diereglos im Gras lag. Aber der Mann
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