Das Spiel der Nachtigall
den Knecht gefragt, der ihm von den Toten erzählte, doch der hatte nur den Kopf geschüttelt und zurückgegeben: »Woher soll ich das wissen?«
Gewiss war sie weit fort von hier, gesund und munter. Manchmal dachte Walther immer noch, dass sie ihm mit Salerno einen Bären aufgebunden hatte, auch wenn er inzwischen mehr über die mulieres Salernitanae wusste; nicht, dass er sich gezielt erkundigt hätte, wie es denn um Frauen als Ärzte stünde. Natürlich nicht. Doch selbst, wenn sie nicht in Salerno sein sollte, um die Heilkunst zu erlernen, dann war sie gewiss mit ihrem Vater nach Köln zurückgekehrt. Es gab keinen Grund, anzunehmen, dass sie an diesem Abend im Haus ihres Vetters gewesen war; es gab ja nicht einmal einen Grund dafür, dass er sie immer noch in Erinnerung hatte.
Fünf Frauen waren tot, und zehn Männer, die wohl nicht übler gewesen waren als der nächstbeste Mann auf der Straße. Der nächstbeste Mann, der seinen Abend in einer Schenke verbrachte und in die Nacht feierte, bis er ein paar andere Menschen ohne erkennbaren Grund einfach totschlug.
Walthers Gedanken liefen wie Hunde, die nach ihrem eigenen Schwanz schnappten, wieder und wieder im Kreis. Schließlich ertappte er sich dabei, wie ihn seine Beine erneut in die Stadt trugen, auf den Weg, den er am Abend zuvor tunlichst vermieden hatte. Nun stand er vor dem Haus mit einem zerborstenen Riegel. Es war sofort als das eines wohlhabenden Mannes erkenntlich, voller waagrechter und schräger Balken, die das Dach stützten, das aus Tonziegeln war, nicht nur aus mit Lehm versetztem Flechtwerk wie die Häuser der ärmeren Leute. Walther biss sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte, dann klopfte er und trat durch das Tor, das in einen kleinen Innenhof führte. Dort fand er ein paar Männer dabei, den Boden zu fegen und Wasser über die dunklen Flecken zu gießen, die er sofort als Blutspuren erkannte.
»Was wollt Ihr?«, fragte einer von ihnen feindselig. »Hier gibt es nichts mehr zu stehlen!«
»Das ist nicht meine Absicht. Ich … ich wollte den Toten meine Aufwartung machen«, sagte Walther stockend.
»Sie werden gerade unter die Erde gebracht. Ihr könnt keiner von uns sein, sonst wüsstet Ihr, dass es geschehen muss, bevor die Sonne zum zweiten Mal wieder sinkt, und Ihr wüsstet auch, dass man die Familie bis zum dritten Tag der Schiwa in Ruhe lässt. Hat Euresgleichen nicht genug Schaden angerichtet? Verschwindet. Wenn sie zurückkehren, sollen sie niemanden hier finden, der ihnen noch mehr Kummer bereitet.«
»Dann – dann ist von der Familie noch jemand am Leben?«
»Meine Herrin ist die Tochter von Reb Salomon und lebt mit ihrem Mann am anderen Ende der Stadt. Sie und ihr kleiner Bruder, der sich unter einem Bett versteckt hat, sind die Einzigen, die noch am Leben sind«, sagte der Knecht feindselig. »Deswegen hat sie uns geschickt, um hier aufzuräumen. Das Gesinde von Reb Salomon ist davongelaufen oder tot, bis auf den Wilhelm, und der wird nun mit seinem Diebstahl ungeschoren davonkommen, wo niemand mehr da ist, um eine Strafe für ihn zu fordern.«
»War vielleicht eine Base Eurer Herrin hier zu Gast, aus Köln?«
Der Knecht machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Seid Ihr immer noch da?«
»Ihr Vater ist Arzt und hat mich geheilt, als sie vor zwei, drei Jahren in Wien waren«, log Walther. »Deswegen wollte ich ihnen Respekt erweisen und für sie beten, wenn …«
»Ich weiß von keinen Verwandten aus Köln«, sagte der Knecht, packte Walther am Arm und schob ihn zur Tür hinaus.
Die Peterskirche war immer noch die größte Kirche, die Walther je gesehen hatte, und er betrat ihr dreischiffiges Inneres, das angeblich einmal ein römisches Kasernengebäude gewesen war, nie ohne ein Gefühl des Staunens. Gewöhnlich war er zwar nicht der Frömmste, doch er verrichtete seine Gebete mit dem Rest des Hofes und hatte im Allgemeinen den Eindruck, dass Gott ihm gewogen sein musste, wofür er ihm hin und wieder ein Preislied schrieb. Heute jedoch fehlte ihm jene an Selbstzufriedenheit grenzende Gewissheit. Stattdessen kniete er vor dem Marienaltar und sprach Gebete für die Toten, alle fünfzehn, und die Kälte und Härte des Bodens unter seinen Knien waren auf seltsame Weise beruhigend. Er konnte sich das Gesicht Salomons nicht mehr vor Augen rufen, obwohl er ihm vier oder fünf Mal im Jahr in Klosterneuburg oder Wien über den Weg gelaufen sein musste. Wie die Übrigen ausgesehen hatten, wusste er auch nicht. Da sie
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