Das Spiel des Alchimisten: Historischer Roman (German Edition)
vermögen.
In Marias Augen war kein Erkennen zu lesen.
»Ich bin's ...«, hörte ich mich sagen.
Ich hatte sie von irgendwoher zurückgeholt, und es war ein weiter Weg gewesen bis zu diesem Friedhof und dem Mann, der vor ihr stand. Sie blinzelte, ohne zu lächeln.
»Vater.«
Ich streckte die Arme aus in einem Versuch, sie an mich zu ziehen, doch angesichts ihrer unbewegten Miene und ihrer starren Haltung zögerte ich erneut. Der Augenblick war vertan. Ich ließ die Arme sinken.
Ich räusperte mich. »Wie geht es dir?«
»Gut.«
Sie schien weder überrascht, dass ich in Augsburg war, noch, dass wir am Grab von Martin Dädalus zusammentrafen. Ich dachte an das nigromantische Symbol, das sie ihm auf seinen letzten Weg mitgegeben hatte. Dabei verwirrte mich ihre Gegenwart in stärkerem Maß, als ich es für möglich gehalten hätte; ständig schoben sich die Bilder meiner verstorbenen Frau zwischen mich und meine Tochter. Maria wirkte an allem so uninteressiert, als seien ihre Gedanken ihrem Körper längst schon vorausgeeilt und befänden sich bereits am Ziel ihrer hastigen Flucht vom Friedhof.
»Ich muss gehen«, sagte sie plötzlich.
»Ich habe dich gesucht«, sprudelte ich hervor. »Ich bin nur deinetwegen nach Augsburg gekommen. Du warst nicht mehr in dem Haus ...«
»Johann ist tot.«
»Warum hast du dich nicht an mich gewandt? Warum hast du nicht nach Hause geschrieben, als du deine Bleibe verlassen musstest? Es gibt jemanden, der das Geschäft in Landshut für mich führt, man hätte dir geholfen.«
»Ich musste das Haus nicht verlassen.«
»Nein?«
Sie blickte durch mich hindurch. Ihre Haltung widersprach dem, was sie sagte, als sie flüsterte: »Ich wollte es ...«
»Aber, Maria, als Witwe, ganz auf dich allein gestellt. Du machst dich ja unmöglich ...«, ich bemerkte, dass ich ebenfallsetwas anderes sagte als das, was mir eigentlich auf dem Herzen lag.
»Was willst du hier?«
Maria war das einzige meiner Kinder, das mich stets geduzt hatte, auch in Gegenwart Fremder. Sie war die Einzige, der ich es hatte durchgehen lassen, ohne sie zurechtzuweisen. Ich starrte sie an und hörte, wie ich erneut der Wahrheit auswich: »Ich wollte nur sehen, ob es dir gut geht.«
»Es geht mir gut.«
»Bist du sicher?«
Sie antwortete nicht. Nach all den Jahren stand ich meiner Tochter gegenüber, und sie war weiter von mir entfernt, als sie es in der Zeit der Trennung jemals gewesen war. Ihre Hände zupften an ihrem Rocksaum. Die Nähte waren vollkommen ausgefranst.
»Wo lebst du jetzt?«
»Ich muss gehen.«
»Ich muss dir etwas mitteilen.« Ich holte Atem und griff nach der Wahrheit und hatte das Gefühl, das Falsche zu tun. »Über Johann. Deinen Mann.«
»Du hättest nicht herkommen sollen.«
»Wir können gemeinsam von hier weggehen. Komm mit nach Hause.«
»Ich bin zu Hause.«
Ein Schauder lief mir über den Rücken. Es hatte sich angehört, als meine sie den Friedhof. Mir fiel ein, dass es für ihren verstorbenen Mann hier nicht einmal ein Grab gab. Seine Leiche war in der Nähe des Galgens vor der Stadtmauer von Florenz verscharrt worden, wenn die Behörden Gnade gezeigt hatten. Wenn nicht, hing er noch daran, den Raben zum Fraß und dem nächsten Verurteilten zum grässlichen Kameraden seiner letzten Atemzüge. Ich deutete auf die Stelle, an der die Totengräber Erde auf Dädalus' Leichnam warfen. »Kanntest du ihn?«
»Nein.«
»Was suchst du dann hier?«
»Ich weiß, was er getan hat.«
»Deswegen das Symbol?«
»Was willst du wirklich, Vater?« In ihre gefühllose Stimme, die das Einzige war, das in keinster Weise an ihre Mutter erinnerte, hatte sich plötzlich ein kühler Hauch gemischt.
»Es gibt etwas, das du noch nicht weißt. Wir müssen reden.«
»Jetzt auf einmal?«
»Ich weiß, ich habe viel versäumt...«
»Alles.«
»Es ist nicht zu spät.«
Ich hatte sie erreicht; durch die Erschöpfung und Abgestumpftheit und durch ihren Panzer aus Desinteresse hindurch hatte ich plötzlich etwas in ihr erreicht. Es war der Schmerz, den ich ihr und all meinen Kindern zugefügt hatte, und es tat weh zu erleben, dass er all die guten Erinnerungen, die sie vielleicht von mir hatte, vollkommen überdeckte. Ich merkte, wie meine Hände trotz des schwülen, drückenden Wetters kalt wurden. Wenn ich ihr mitteilte, was ich zu sagen hatte, würde es vermutlich endgültig zu spät sein für sie und mich.
»Wo lebst du jetzt?«, fragte ich nochmals. »Ich könnte bei dir unterkommen und die
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