Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
dem fahlen Mondgesicht auf der anderen Seite der Kabine.
Julius fragte sich, warum der Hofrat ihn nicht schon längst umgebracht hatte. Und obwohl sein Kopf sich anfühlte, als hätte darin ein Ringelspiel vom Prater eine neue Zweigstelle aufgemacht, sagte er mit erstaunlich fester Stimme: „Von Ihnen auch, Schattenbach … von Ihnen auch. Sehr dumm sogar …“
Plötzlich glaubte er, dass der nahende Tod ihm jede Kühnheit erlauben würde. Doch schon im nächsten Moment winkten wieder die Zipfel der dunklen Decke, und er sackte erneut weg.
Das Nächste, was er sah, war ein fahles Licht, das irgendwo außerhalb der Kutsche herumgeisterte. Er wurde gepackt und aus dem Wagen gezerrt. Er betastete seinen Kopf, ob er irgendwo blutete. Doch er konnte nichts spüren.
Kranzer bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee und rieb damit Julius’ Gesicht ab.
Ich bin nicht so schwer verletzt wie damals, dachte er erleichtert.
Er wurde durch den Schnee geschleift und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Eines stand fest – er war außerhalb von Wien. Die Luft roch nach den Ausdünstungen von Pferden und nach scharfem, frischem Schnee.
Julius sah ein weitläufiges Gebäude mit Fenstern, durch die rötliches Licht fiel. Und eine schnurgerade Reihe schwarzer Bäume – das musste eine Allee sein. Hatte der Hofrat einen Landsitz außerhalb der Stadt? Wie soll Lischka mich finden und hier herausholen, wenn wir so weit von Wien entfernt sind, fragte sich Julius. Was hatten sie mit ihm vor?
Sie gingen um das große dunkle Gebäude herum und steuerten auf eine Art Remise zu. Ein weit geöffnetes Tor schickte Licht auf den verschneiten Vorplatz, und Julius konnte im Schein von Fackeln mehrere Fuhrwerke erkennen, Kutschen, offene Landauer und etwas, das aussah wie ein Pflug. Eine der Kutschen stand bereits draußen, ein gepflegtes, blank geputztes Gefährt mit schwarzen Seiten und einem silbrig schimmernden Dach. Von links vernahm er das Schnauben von Pferden. Jemand schickte sich an, die Tiere vor das Gefährt zu spannen.
Julius` Kopf schwirrte von der Fülle der neuen Eindrücke. Er spürte, dass Aufbruchsstimmung in der Luft lag. Etwas würde geschehen … Und er war hier, um daran teilzuhaben. Doch das, was Kranzer tat, ließ wenig Hoffnung für eine positive Wendung des Geschehens. Er zerrte ihn in die Remise und stieß ihn auf einen feuchten Strohballen, der direkt neben dem großen Rad eines Fiakers lag. Und im nächsten Moment schloss sich etwas Kaltes um seine Hände. Handschellen, die ihn fest an die Radspeichen ketteten. Dann wandte Kranzer sich wortlos ab und bezog Posten am Eingang der Remise.
Verwirrt starrte Julius nach draußen. Er sah, wie der Hofrat mit zwei Männern im Schlepptau auf die wartende Kutsche zusteuerte. Die Männer trugen den großen Kasten, in dem Julius die Medusa vermutete. Der Kasten verschwand im Innern des Gefährts. Also würde es weggebracht werden. Weit weg. Doch warum ließ der Hofrat zu, dass er alles mit ansehen konnte?
„He, Hofrat!“, brüllte Julius in einem Anflug von todesverachtendem Wagemut. „Vergessen Sie nicht, mir den Hals umzudrehen und mich in die Donau zu werfen, nach allem, was ich gesehen habe!“ Seine Stimme hallte blechern durch die Remise.
Kranzer drehte sich um und starrte ihn drohend an. „Halt den Mund, du verdammter Idiot!“
Kranzer schoss auf ihn zu und hob die Hand. Julius zog den Kopf ein.
„Lass ihn in Ruhe!“, rief die Stimme des Hofrats, und im nächsten Moment stand der Fettwanst neben Kranzer und hielt dessen Arm fest. „Stell dich vorn an die Einfahrt und warte auf Delaunie. Wenn er kommt, bring ihn gleich her.“
Kranzer knurrte wie ein enttäuschter Hund und verschwand.
Viktor von Schattenbach stellte sich vor Julius, und der musste unwillkürlich lächeln, weil der Hofrat eine so lächerliche Figur abgab. Seine Nase war rot gefroren von der Kälte, und der weite Wintermantel sah aus wie ein schwarzes Zelt über dem massigen Körper. Der Hofrat stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Du solltest das Maul nicht so weit aufreißen, Pawalet. Du weißt doch, dass das deinem Vater auch nicht gut bekommen ist.“
„Ich weiß nichts über meinen Vater. Die Drohung ist also ein bisschen schwach.“
Seine Handgelenke fühlten sich an, als wachse eine Eisschicht darum. Der Hofrat starrte ihn an. „Es freut mich, dass es dir so gut geht, dass du noch freche Sprüche parat hast, aber ich muss dich enttäuschen. Kranzer wird dir
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