Das Sterben der Bilder: Ein unheimlicher Roman aus dem alten Wien
nebeneinander her. Links erhob sich nun der abweisende Bau der Augustinerkirche. Sie folgten Colette über den Michaelerplatz. Die junge Frau blieb nun stehen und schien etwas in ihrer Handtasche zu suchen. Lischka zog Julius in einen Hauseingang, wo sie warteten, bis Colette weiterging.
„Ich erinnere mich, dass mein Vater immer wieder tagelang verschwunden war und mich in die Obhut einer Nachbarin gegeben hat“, sagte Julius nachdenklich. „Er hat nie gesagt, wo er hingegangen ist und was er in dieser Zeit gemacht hat.“
„Und wenn er zurückkam, war er dann spendabel?“, fragte Lischka. „Hat er dir was Gutes zum Essen gekauft oder Geschenke gemacht? Oder hat er danach besonders viel gesoffen?“
Julius nickte. „Ja. Wenn er zurückkam, hat er mir meistens irgendwas geschenkt. Es war, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er so lange weggeblieben ist.“
„Dann hat er in dieser Zeit wahrscheinlich Arbeit gehabt. Aber eine Arbeit, von der niemand wissen durfte. Und höchstwahrscheinlich ist der Hofrat der Schlüssel.“
„Steht noch etwas in der Akte, was ich noch nicht weiß?“, fragte Julius mit spöttischem Tonfall.
„Allerdings“, sagte Lischka. „Hast du nicht erwähnt, dass deine Mutter nach deiner Geburt gestorben ist?“ Er trat aus dem Hauseingang auf die Straße, und sie nahmen die Verfolgung wieder auf.
„Willst du mir jetzt etwas anderes erzählen?“, fragte Julius atemlos.
„Nicht unbedingt. Also, in der Akte deines alten Herrn gibt es den Vermerk zu einer Heiratsurkunde. Ich hab mich nach dem Dokument erkundigt. Er hat im August 1878 eine Frau namens Maria Habermann geheiratet. Das dürfte dann ja wohl deine Mutter sein.“
„Ja und?“, fragte Julius lauernd und spürte ein unheilvolles Zittern in der Magengrube.
„Nun, uns liegt für eine Frau Maria Habermann keine Sterbeurkunde vor. Im Sterberegister gibt es jedenfalls keinen Vermerk über das Ableben dieser Frau.“
Also hatte er ihn wieder angelogen, schoss es Julius durch den Kopf. Er schwieg, doch Lischka sprach weiter. „Das muss gar nichts heißen. Manchmal gehen solche Papiere verloren, oder der Arzt oder der Bestatter ist schlampig mit den Sterbeurkunden. Ich wollte damit nur sagen, dass deine Mutter höchstwahrscheinlich Maria Habermann hieß und dass sie, wenn schon nicht tot, jedenfalls unauffindbar ist. Im zentralen Melderegister Wien gibt es sie nicht. Vielleicht lebt sie außerhalb von Österreich.“
Julius vertrieb die Gedanken, die sich in ihm wie ein wütender Wespenschwarm erhoben, und fragte unvermittelt: „Und was hast du über Alois Lanz herausgefunden?“
„Ach ja, Alois Lanz“, antwortete Lischka. „Also, du bist ihm wahrscheinlich schon begegnet.“
Der Inspektor zog ihn weiter, ehe Colette hinter einer Straßenbiegung verschwinden konnte. „Hast du mir nicht erzählt, dass dein Vater dich damals zur Eröffnung des Kunsthistorischen Museums mitgenommen hat?“
„Ja, das stimmt. Da war ich dreizehn.“ Plötzlich dämmerte in Julius eine Erinnerung herauf. Es war nur ein unbestimmter Eindruck von einem Ereignis, das ihn damals schockiert hatte. Da war ein Mann gewesen, der irgendetwas getan hatte, was den Regeln des Museums zuwiderlief. Doch das Bild war verschwommen.
„Moment mal“, murmelte er. „Da hat irgendein Besucher ein Gemälde beschädigt, oder? Die Medusa von Rubens, das weiß ich noch.“
Inspektor Lischka blieb mitten auf dem verschneiten Gehweg der Herrengasse stehen. Er starrte Julius nur wortlos an. Julius wusste, was der Inspektor dachte. „Dieser Zwischenfall hat mich eben beeindruckt, ich hatte Angst.“
„Angst … die hätte ich auch gehabt“, murmelte Lischka. „Dieser Mann war Alois Lanz.“
Er ging weiter, und Julius bekam einen Schweißausbruch vor Aufregung. Er spürte die Kälte um sich herum nicht mehr.
„Du hattest auch recht mit der Annahme, dass Lanz Maler ist“, fuhr Lischka fort. „Er wurde an der Akademie der Bildenden Künste ausgebildet, und er hat sich 1890 beim Kaiser als Hofmaler beworben. Wenn du mich fragst, ein ziemlich überhebliches Unterfangen, wenn man gerade die Akademie abgeschlossen hat.“
„Lass mich raten“, unterbrach Julius ihn, „er wurde nicht angenommen.“
„Wegen mangelndem Talent. So steht es in der Absage auf die Bewerbung. Dieses Schreiben ist zur Akte von Lanz hinzugefügt worden, nachdem er straffällig geworden war.“
„Und der Sabotageakt im Kunsthistorischen Museum war also die Rache
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