Das Südsee-Virus
derer, die es in unserer Hierarchie ganz nach oben geschafft haben, wie Omai, wie Rauura. Wenn diese Männer der Meinung sind, dass sie dich aus der Schusslinie nehmen müssen, dann zweifeln wir nicht, dann gehorchen wir. Gib dich keinen Illusionen hin, wir können und werden dir nicht helfen. Nicht auf die Art, wie es dir vorschwebt. Wir werden dich wie befohlen zurück nach Tahiti bringen. Bis dahin giltst du offiziell als verschollen. Ob das so bleiben soll oder ob du in dein ursprüngliches Präsidentenamt zurückkehrst, entzieht sich meiner Kenntnis. Als URP-Vorsitzende bist du Geschichte. Du hast eine Menge bewirkt, Maeva, aber dein Volk wird es nicht zulassen, dass du dich auf dem Schlachtfeld der Weltpolitik opferst.«
Rudolf fühlte sich extrem unbehaglich. Die Hälfte seiner kurzen Rede bestand aus Zitaten Rauuras, die er aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte. Ausgerechnet in dieser Situation, in der Maeva es mehr denn je verdiente, dass er sich mitfühlend zeigte, war er nicht authentisch, kam er sich wie ferngesteuert vor.
»Wer ist noch beteiligt?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Wer?! Sag es mir, Rudolf! Wer aus unserem Team wusste davon? Knowles?«
Rudolf nickte.
»Cording …?«
Rudolf nickte.
»Cording?! Sag, dass es nicht wahr ist …!«
Rudolf schlug die Augen nieder.
»Was ist mit Steve?«, presste Maeva hervor.
»Nein.« Rudolf schüttelte energisch den Kopf.
Beißender Qualm kroch über den Strand und brannte Maeva in den Augen. Sie warf den Kopf in den Nacken und begann zu schreien. Schrill und laut. Wieder stoben Vögel über ihr auf. Sie fiel nach hinten, schlug mit den Füßen aus und wand sich wie ein Wurm. Ihre Schreie verloren allmählich an Kraft, schienen an sich selbst zu ersticken, sie wurden heiser und leiser, bevor sie unter Husten- und Schluckbeschwerden jämmerlich verendeten. Rudolf, der das Elend hautnah miterlebte, sah sich außerstande, eine Geste des Trostes zu spenden. Zu wirr schaute Maeva zu ihm auf mit ihrem nassen Gesicht und den sandigen Lippen. Sie starrte auch auf die übrigen Krieger, die sich um sie versammelt hatten. Dann und wann, regelmäßig wie ein schmerzender Nerv, flackerte in ihr die Überzeugung auf, dass diese Visagen einer unbekannten, monströsen Rasse angehörten …
San José, Costa Rica, 14. Februar 2029
Maeva befindet sich auf dem Weg nach Tahiti. Das hat mir Omai mitgeteilt. Ich hätte mich nicht auf diese Scheiße einlassen dürfen. Ich vermisse sie. Allmählich gehen mir die Entschuldigungen aus. War ich wirklich um ihr Leben besorgt? Was ist mit dem Versprechen, das ich mir am Anfang der Reise gegeben hatte? Wollte ich meiner Jeanne d’Arc nicht tapfer zur Seite stehen? Hatte ich mich nicht verpflichtet, mein Leben in den Dienst dieser außergewöhnlichen Frau zu stellen? Stattdessen dieser Verrat. So ist das mit uns Normalsterblichen: Wir rächen uns, wenn etwas zu groß geworden ist, um es zu verstehen. Warum bin ich diesem windigen Schamanen gefolgt, der keine Gelegenheit ungenutzt ließ, um Maeva als wahnsinnige Weltenretterin zu verunglimpfen? Warum ist Omai ihm gefolgt? Niemand verkörpert die Sehnsucht der Menschheit nach Selbsterneuerung besser als seine Schwester. Sie kann diese Sehnsucht spüren, sie kann sie riechen, sie weiß, dass es nur jemanden braucht, der den Stein ins Rollen bringt. Und wie jeder historischen Person ist auch ihr klar, dass es immer nur ein Mensch sein kann, der die höchste Vision heraufbeschwört, der die großartigste Wahrheit artikuliert, der inspiriert, agitiert und wachrüttelt, um letztlich eine Atmosphäre zu schaffen, in der ein kollektives Handeln nicht nur möglich, sondern unausweichlich wird.
Es fühlt sich nicht gut an, ins Rad der Geschichte gegriffen zu haben. Es wäre besser gewesen, Maeva ihre Mission zu Ende führen zu lassen, sie war doch im Unterbewussten bereit für den »Scheiterhaufen«, den man sendungsbewussten Kämpferinnen wie ihr seit jeher aufschichtet. Ich habe das nur nicht begriffen, Knowles auch nicht. Er ist in New York geblieben, er will an ihrem Mythos stricken, wie er sagt. Seine angedeuteten Schuldzuweisungen in Bezug auf Maevas Verschwinden, die er gestern bei CBS vom Stapel gelassen hat, schlagen hohe Wellen. Knowles ist der Einzige von uns, der vorbehaltlos glücklich zu sein scheint über die Entwicklung. Jetzt hält er das Ruder in der Hand. »Einen Mythos zu kreieren ist nicht schwer«, hat er zum Abschied gesagt, »die Kunst ist, ihn
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