Das Südsee-Virus
behaupten kann. Mit dem Spoilereffekt sozusagen. Spoilereffekt, das sagt Ihnen nichts, meine Damen, oder? Egal. Das Geniale an der Natur ist, dass sie mit der Zeit Nachteile in Vorteile umwandelt.«
Er deutete zur Seite und presste seine Stirn gegen die Scheibe, als sehe er seine Geschöpfe zum ersten Mal. Bis zu hundertfünfzig Meter schwangen sich die Rücken der milchig schimmernden Seesterne in die Höhe. Ludwig Liebherr schien von dem Anblick ähnlich beeindruckt wie seine erlauchten Gäste.
»Wir sind da, Herrschaften!«, rief er, sprang erstaunlich behände aus dem Bus und verbeugte sich wie ein Zirkusdirektor vor Maeva und Rajani, die sich ein Lachen nicht verkneifen konnten. Vier Filipinos in weißen Overalls eilten herbei und trugen das Gepäck ins Gebäude, in dessen Eingangshalle der gesamte Berliner Hauptbahnhof Platz gefunden hätte. Während Steve die Frauen hineinbegleitete, blieb Cording neben dem Architekten stehen.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte dieser überrascht. »Wollen Sie sich nicht ein wenig ausruhen nach dem langen Flug?«
Cording schüttelte den Kopf.
»Na schön. Vielleicht hätten Sie dann ja Lust, mit mir eine kleine Spritztour durch das Städtchen zu unternehmen.«
»Sehr gerne, Herr Professor.«
»Lassen Sie den Professor mal weg. Na kommen Sie. Wir gehen zu Fuß. Zu Fuß gewinnt man einen ganz anderen Eindruck von den Dimensionen.«
Die beiden Männer machten sich auf den Weg in die Wüste, aus der Liebherrs Gebäudeblasen hervorquollen, als habe die Erde sie gerade ausgeatmet.
»Wer von den beiden Damen ist denn jetzt Maeva?«, fragte Liebherr und hakte sich bei Cording ein. »Die Jüngere oder die Ältere?«
»Die Jüngere.«
»Donnerwetter, die traut sich was! Na ja, sonst geht das ja auch gar nicht …«
Seit fünf Jahren hatte Cording sich nicht mehr auf Deutsch unterhalten, und der Hamburger Akzent in Liebherrs Stimme machte die Sache noch angenehmer.
Der Professor ging in die Knie, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ ihn zwischen den Fingern hindurchrieseln.
»In den Ballungsgebieten machen solche Gebäude natürlich keinen Sinn«, sagte er, »zu wenig Platz. Also müssen die Küstenbereiche und Wüsten als zukünftiger Lebensraum herhalten. In der Wüste hast du Sand. Wenn du Sand hast, hast du Glas, hast du Baumaterial. Man kann aus Sand alles Mögliche machen. Wenn man ihn verdichtet, wird er extrem hart und stabil. Kaum zu glauben, aber die Außenhäute dieser Gebäude sind aus Sand gefertigt. Sie sind nicht nur schön, sie sind auch billig. Aber vor allem sind sie unverwüstlich …«
Er klopfte vor Vergnügen über die gelungene Metapher dreimal kräftig auf den Wüstenboden.
»Wenn ich mir überlege, dass es über dreißig Jahre gedauert hat, bis sich diese Idee durchgesetzt hat …«
Liebherr ignorierte die Hand, die ihm Cording darbot, und stand ächzend auf.
»Die Politiker reagieren auf die Vorschläge von uns Bionikforschern ja immer noch nach dem Motto: Nun verderbt uns mal nicht die gute Laune.«
Liebherr teilte das Schicksal aller Visionäre, denen die Zeit davonlief. Er hielt die Ideallösung zur Rettung der Welt in Händen und musste nun feststellen, dass sein kleines Menschenleben nicht ausreichte, um die Widerstände, die der Umsetzung bahnbrechender Ideen seit jeher Schwierigkeiten machten, zu überwinden.
»Wie dumm muss eine Spezies eigentlich sein, die bei der Sicherung ihrer Zukunft unbeirrt an Ressourcen festhält, die berechenbar knapper werden und deren Gewinnung und Verarbeitung zudem noch extrem umweltschädlich sind?«, fragte Liebherr und rührte mit dem Fuß im Sand. »Wir haben Wind, Wellen, Sonnenkraft, Biomasse, Thermik, wir haben die Wüste, die Küsten, die Wasserfälle und Gebirge, wir haben Algen und Plankton und tausend Dinge mehr im Übermaß. Was wir nicht im Übermaß besitzen, sind fossile Brennstoffe, sind Süßwasservorräte und Metalle. Wir brauchen ein Konzept, das die üppig vorhandenen Ressourcen nutzt und die knappen verschont. Können Sie mir folgen?«
Ob er ihm folgen konnte? Cording musste lachen. Diese Leier spielte man doch seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts …
»Singlelösungen helfen uns nicht weiter«, fuhr Liebherr fort. »Die Windräder zum Beispiel: absoluter Quatsch. Ihre Herstellung verbraucht enorm viel Energie und seltene Metalle, und dann stehen sie die Hälfte der Zeit still. Bei Schwachwind arbeiten sie nicht und bei Orkanstärke auch nicht. Ein Drittel des von
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