Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
wertvollstes Pergament, auf dem sich Schriftzeichen befinden, die niemand versteht. Abt Benedikt wollte die Schriftzeichen erst entschlüsseln, ehe er dem Vatikan Mitteilung macht«, erklärte Jendrik in der Hoffnung, den Bruder aus Rom damit zu besänftigen.
Doch dieser erklärte: »Diese Vorgehensweise ist unverantwortlich.«
Jendrik nickte eifrig, was hätte er auch anderes tun sollen.
Er flüsterte: »Es gibt Brüder, die fürchten, der Teufel selbst hat die Schrift gemalt.«
Aber damit konnte er den Verhüllten nicht beeindrucken. Plötzlich und völlig ohne Vorwarnung schlug der Mann hinter dem Schreibtisch mit der flachen Hand auf die Arbeitsplatte, hob den Kopf und warf dabei seine Kapuze zurück.
Jendrik fuhr zurück. Ein fürchterlich entstelltes Gesicht kam zum Vorschein, das anstelle der Nase eine grässliche Narbe hatte. Hörbar sog Jendrik die Luft ein, ballte die Hände zu Fäusten und biss sich auf die Zunge, um nicht vor Entsetzen laut aufzuschreien. Wer hatte den Mann bloß dermaßen zugerichtet?
»Wertvolles Pergament mit Schriftzeichen in einer Sprache, die keinen Sinn ergeben? Mit Illustrationen von Pflanzen und Lebewesen, die es auf dieser Welt nicht geben kann?«
Jendrik hob überrascht die Augenbrauen und vergaß für einen Moment den hässlichen Anblick. Der Mann hinter dem Schreibtisch kannte die Pergamentbögen offenbar. War es möglich, dass man in Rom darüber längst Bescheid wusste?
Jendriks Angst wuchs. Eiskalter Schweiß tropfte von seinen Schläfen auf die Schultern. Vielleicht wusste der Papst ohnehin alles, was in seiner Kirche geschah?
»Ja, genau so sehen die Bögen aus«, sagte er heiser.
»Kennt Ihr den Dieb der Schrift?«, fragte der Entstellte eisig.
Jendrik nickte: »Ja, ich kenne den Mann persönlich. Er ist ein aufgeblasener Wissenschaftler, ein Anhänger von Kepler und Galilei, der glaubt, die Welt mit Naturgesetzen erklären zu können.«
Beim Gedanken an Pfeiffer vergaß Jendrik für einen kurzen Moment seine Angst. Aber kaum hatte er den Satz ausgesprochen, war sie schon wieder da, und diesmal heftiger als zuvor, denn Jendrik sah, dass die Laune seines Gegenübers noch düsterer wurde. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und funkelten Jendrik gefährlich an. Ohne den Blick von ihm zu lassen, griff der Mann mit der Narbe in eine der Schreibtischschubladen, holte einen Packen Pergamentbögen hervor und knallte ihn lautstark auf den Tisch.
»Ist das Eure Ketzerschrift?««, fragte er streng.
Als Jendrik den Hohn in seiner Stimme erkannte, war es bereits zu spät. Schon hatte er sich auf das Manuskript gestürzt und fassungslos geflüstert: »Ja! Das sind die Bögen, die uns gestohlen wurden! Das heißt, Pfeiffer ist bereits hier gewesen.« Also waren Conrad Pfeiffer und Jana Jeschek tatsächlich die Besucher aus Prag gewesen, von denen der Pförtner gesprochen hatte.
Doch ehe Jendrik einen klaren Gedanken fassen konnte, zischte der Mann aus Rom ihn an: »Ihr blinder Narr! Wie konntet Ihr annehmen, dass dieser Unsinn hier irgendeine Botschaft enthält?«
Jendrik zuckte zusammen.
»Aber … es … ist …«, stammelte er verwirrt. Er sah vom Manuskript zu dem entstellten Gesicht des Jesuiten und wieder zurück. Plötzlich erkannte Jendrik, dass die Nase nicht mit einem Schwerthieb abgeschlagen worden war, wie er zuerst angenommen hatte. Es musste Säure gewesen sein, was diese Narbe verursacht hatte, denn die Flüssigkeit hatte auch die Haut rundherum beschädigt. Diese Erkenntnis jagte ihm noch mehr Angst ein. Was für Aufträge musste dieser Mann für den Papst ausführen, dass man ihn auf solche Weise bestrafte? Die Bilder, die seine lebhafte Phantasie ihm vor Augen führte, waren entsetzlich.
So leise, dass Jendrik sich anstrengen musste, ihn zu verstehen, flüsterte der Entstellte: »Dieses Manuskript ist das Werk eines Betrügers.«
Jendrik nickte, ohne zu begreifen.
»Ich nehme an, dass sich da jemand einen bösen Scherz erlaubt hat. Jemand, der einfältige Mönche hinters Licht führen wollte, um auf diese Weise an Geld zu gelangen. Ähnlich wie der Dieb dieser Schrift. Wie sagtet Ihr … Pfeffer?«
»Pfeiffer«, verbesserte Jendrik. »Aber …«
»Schweigt!«, donnerte der Mann mit dem entstellten Gesicht. Jendrik zuckte erschrocken zusammen, schließlich hatte der Bruder aus Rom gerade noch geflüstert. »Abt Nicola war ebenso blind wie Ihr und Eure Brüder in Prag. Aber im Gegensatz zu Euch hat er einen sehr schwerwiegenden Fehler
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