Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
sich unmittelbar vor der eigenen Nase abspielte. Nach einer Weile bat er den Bibliothekar, sich noch etwas umsehen zu dürfen.
»Gerne«, sagte Gerard und zeigte auf das hinterste Regal. »Wenn Ihr Euch für Reiseberichte interessiert, solltet Ihr dort suchen. Wir haben interessante Bücher. Erst vor kurzem erhielten wir einen Reisebericht von einem Engländer namens Walter Raleigh. Angeblich hat die englische Königin ihn losgeschickt, damit er aus der Neuen Welt Schätze und Reichtümer nach England bringt. Sie hoffte, damit die leeren Staatskassen zu füllen und den Krieg gegen die Spanier zu finanzieren. Aber dann hat das Wetter die Engländer geschützt, und die ganze spanische Armada ist vor ihren Küsten gesunken.«
Gerard ging zu dem Regal und holte besagtes Buch für Pfeiffer heraus.
»Das heißt, dem Mann ist es nicht gelungen, Gold nach England zu bringen?«
Gerard zuckte mit den Schultern.
»Ich habe das Buch nicht gelesen. Für gewöhnlich interessieren mich Reiseberichte nicht. Ich lese lieber Erbauliches von großen Philosophen und Kirchenmännern, etwas, was mich Gott ein Stück näherbringt.«
Pfeiffer schluckte den bösen Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, hinunter und widmete sich dem Buch des englischen Seefahrers. Es handelte sich um die Abschrift eines ambitionierten Mönchs, der sich sogar die Arbeit gemacht hatte, den englischen Text ins Lateinische zu übersetzen. Pfeiffer war ihm dankbar dafür.
Als er die Bibliothek verließ, stand die Sonne schon tief und die Schatten der Obstbäume im Klostergarten waren lang geworden. Jana saß auf einer der Steinbänke und betrachtete sorgenvoll ihren rechten Fuß. Sie war aus ihrem Schuh geschlüpft, der unter der Bank lag.
»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte Doktor Pfeiffer besorgt. Er klopfte sich den Bücherstaub aus der Hose und ließ sich in gebührendem Abstand zu Jana nieder.
»Ich fürchte, das Nächste, wofür wir Geld ausgeben müssen, sind neue Schuhe für mich. Diese hier haben nun endgültig ausgedient.« Sie beugte sich unter die Bank und holte ihren Lederschuh hervor, dessen Sohle ein großes Loch hatte.
Pfeiffer grinste. »Ja, ich stimme Euch zu. Dieser Schuh ist eindeutig kaputt, Ihr braucht ein neues Paar. Und was ist mit Eurem Fuß?«
»Bloß ein blauer Fleck, nicht mehr«, sagte Jana.
»Darf ich sehen?«
Gerade als Jana ihren Fuß in die Hände des Arztes legen wollte, kam Sebastian und rief aufgeregt: »Da seid Ihr ja! Vite, vite! Der Abt schon auf Eusch wartet!« Der Junge hatte Hose und Hemd gegen die farblose Kutte eines Novizen eingetauscht und wirkte darin unglücklich. So als würde die Kutte die Ereignisse, die noch nicht lange zurücklagen, wieder in ihm wachrufen. Sebastian winkte Jana und Pfeiffer zum sandsteinfarbenen Hauptgebäude, an dessen Fassade wilder Wein rankte.
Rasch schlüpfte Jana wieder in ihren Schuh und nahm sich vor, ihn bei der nächsten Gelegenheit erneut auszuziehen, denn das Loch in der Sohle kratzte unangenehm. Gemeinsam mit Doktor Pfeiffer folgte sie dem Jungen.
»Ich sehe mir den Fuß später an«, sagte der Arzt schnell.
Am Eingang wurden sie bereits von einem alten Mönch mit fast kahlem Kopf und eingefallenen Wangen erwartet. Er schickte Sebastian in unfreundlichem Ton zurück zu seiner Mutter in die Küche, wo der Junge heute essen sollte. Die Mönche des Klosters nahmen das Abendessen im Speisesaal ein, der sich unter dem Dormitorium befand.
Der kahle, dürre Mönch winkte Jana und Doktor Pfeiffer zu sich und schlurfte mit seinen ausgetretenen Ledersandalen geräuschvoll über die kühlen Steinfliesen. Vor einer breiten Treppe blieb er kurzatmig stehen und ruhte einen Moment aus, bevor er langsam und bedächtig die Stufen emporstieg. Dabei schnaufte er so laut, dass ihn wohl auch die Mönche im Speisesaal hören konnten.
Am Ende der Treppe führte ein langer Gang bis zu einer geschlossenen Tür. Auf einer Seite des Ganges befanden sich hohe Fenster, durch die das Licht der orangeroten Abendsonne fiel, an der gegenüberliegenden Wand hingen zahlreiche Porträts, offenbar bedeutende Mitglieder des Jesuitenordens. Jana wagte es kaum, in die ernsten, unfreundlichen Gesichter der Porträtierten zu schauen. Manche Künstler verstanden es, die Augen ihrer Modelle so zu malen, dass man, wo immer man als Betrachter auch stand, stets den Eindruck hatte, die Figur auf dem Porträt würde einen anschauen. Jana wollte nicht beobachtet werden, deshalb richtete sie ihren Blick unverwandt
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