Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
tiefe Trauer über seinen Tod, die sie empfand, sobald sie allein mit ihren Gedanken war, vor der Welt verbergen.
Nach dem Abendessen zog sich Jana eilig in ihre Kammer zurück und überprüfte zum letzten Mal ihren Reisesack. Es war alles darin, was sie für die Reise brauchte: ein Ersatzkleid, ein Mantel, ein Kamm, ein Messer, ihr Gebetsbuch, Tinte, Papier, Verbandszeug und Heilsalben, etwas Proviant, eine Wasserflasche aus Ziegenleder, die Haarspange ihrer Mutter und der letzte Brief ihres Vaters.
Dann hieß es warten, was Jana ganz und gar nicht leichtfiel, denn sie war von Haus aus eine ungeduldige Person. Immer wieder starrte sie auf die Stundenkerze auf ihrer leeren Kleidertruhe, aber das Wachs wollte einfach nicht schmelzen. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Längst hatte sie sich den dicken Wollmantel umgehängt, und die Wärme und das Halbdunkel des Zimmers führten dazu, dass ihr irgendwann die Augen zufielen. Genau in diesem Moment war es so weit, Doktor Pfeiffer klopfte leise an ihre Tür.
Jana war sofort wieder hellwach. Sie sprang auf, griff nach ihrem Sack und eilte zur Tür.
»Ich bin fertig«, flüsterte sie.
Der Arzt verzog den Mund und nickte. Falls er darauf gehofft hatte, sie würde im allerletzten Moment noch abspringen, so zeigte er es nicht.
Jana folgte dem großen schlanken Mann über die enge Treppe hinunter zur Haustür. Ein letztes Mal steckte sie ihren schweren Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Leise öffnete sich das Tor.
Plötzlich packte Jana die Angst, legte sich eiskalt um ihr Herz. Sie blieb zögernd stehen. Noch konnte sie zurück, sie konnte die Treppe wieder hinauflaufen und sich in ihr sicheres warmes Bett werfen. Sie würde Tomek heiraten, und jeden Tag aufstehen, die Treppe herunterkommen und mit genau diesem Schlüssel das Tor öffnen, um zum Bäcker zu laufen, hinunter zum Markt oder zur Moldau, wo die Fischer ihren Fang feilboten.
»Worauf wartet Ihr noch?«, fragte Doktor Pfeiffer ungeduldig.
»Auf nichts«, erwiderte Jana patzig. Sie atmete tief durch und trat in die Dunkelheit der Nacht. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Der Schlüssel blieb innen stecken. Kühle Luft umspielte ihr Gesicht, und obwohl sie erst einen Schritt von der Apotheke entfernt war, hatte sie bereits das Gefühl von Freiheit.
Doktor Pfeiffer warf ihr von der Seite her einen Blick zu. Neugier und Überraschung lagen darin und noch etwas anderes, was Jana nicht deuten konnte. Dann drehte er sich um und ging mit schnellen, ausladenden Schritten voraus. Jana eilte ihm nach, für jeden seiner Schritte musste sie zwei machen. Aber sie blickte sich kein einziges Mal um und ließ die Apotheke, den goldenen Brunnen, Prag und ihre Vergangenheit zurück.
6
E S WAR EINE JENER N ÄCHTE , in denen Tepence nicht schlafen konnte. Wie so oft in letzter Zeit quälte er sich, wälzte sich stöhnend von einer auf die andere Seite, aber der erlösende, erholsame Schlaf wollte einfach nicht kommen.
Irgendwann nach Mitternacht hatte er genug. Mit zitternden Fingern suchte er nach seinem Zündzeug, schlug einen Funken und entzündete den Docht seiner kleinen Öllampe. Dann schlüpfte er in Mantel und Schuhe und schlurfte aus der Kammer. In einer Hand hielt er die Lampe und den Schlüsselbund, in der anderen seinen Stock.
Seine Kammer lag im gleichen Flügel wie die Bibliothek. Als er vor Jahren ins Clementinum gezogen war, hatte er sich ausdrücklich gewünscht, nahe an der Bibliothek zu wohnen. Er wollte jederzeit zu seinem geliebten Manuskript und zu all den anderen kostbaren Büchern gelangen können. Und er hatte sich einen eigenen Schlüssel erbeten. Nachdem er jahrelang den botanischen Garten des Kollegiums verwaltet hatte, erfüllte man ihm den Wunsch gerne. Schließlich war Tepence ein wohlhabender Mann, der keine Erben hatte und sein gesamtes Vermögen dem Orden hinterlassen würde.
Trotz des herannahenden Sommers war es kalt auf dem langen Gang. Tepence fröstelte. Vielleicht aber lag es auch am Alter? Alles wurde mit den Jahren beschwerlicher. Ach, wie gerne wäre er noch einmal jung, würde in zarte Hemden gekleideten Mädchen die Köpfe verdrehen und bei einem besonders hübschen Fräulein die Nacht verbringen. Stattdessen war er ein verweichlichter Greis geworden, der im dicken Wintermantel einsam in die Bibliothek humpelte. Voll Bitterkeit verzog er den Mund.
Vor der hohen weißen Tür mit feinem Goldrand blieb er stehen. Er musste seinen Stock an die Wand lehnen und die Öllampe
Weitere Kostenlose Bücher