Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
und noch bevor Jana es ihm gleichtun konnte, holte er schon das zweite Mal aus. Es war, als wollte er sich mit jedem Hieb von einem starken Gefühl befreien.
Jana glaubte zu wissen, was der Grund für seinen Kummer war. Pfeiffer war Wissenschaftler, er war vom Fortschritt in der Medizin überzeugt, und dennoch musste er zugeben, dass es Krankheiten gab, denen er völlig hilflos gegenüberstand.
Schon nach kurzer Zeit stand er knietief in einem Loch. Verschwitzt zog er seine Jacke aus und krempelte sich die Ärmel seines Hemds auf. Janas Versuche, ihm beim Graben zu helfen, waren lächerlich. Sie war immer noch müde und erschöpft von der Nacht und hackte lediglich halbherzig ins Erdreich.
Als die Grube endlich so tief war, dass man darin einen Menschen begraben konnte, stand die Sonne hoch am Himmel. Müde, aber deutlich zufriedener kletterte Pfeifer aus dem Loch, stellte den Spaten beiseite und ging zur Quelle hinter dem Haus. Dort wusch er sich Hände und Gesicht und meinte: »So, jetzt können wir aufbrechen.«
Völlig überrascht fragte Jana: »Sollen wir dem Mann denn nicht bei der Beisetzung helfen?«
Pfeiffer schüttelte den Kopf: »Das wollte er nicht. Er möchte in Ruhe seine Totenwache abhalten und seine Frau dann ins Grabe legen. Was wir tun konnten, haben wir getan. Jetzt lasst uns losreiten, wir haben viel kostbare Zeit verloren.«
»Aber … ich …« Jana hätte sich gern von dem alten Mann verabschiedet, doch vielleicht hatte Pfeiffer recht, und er wollte das gar nicht. Nachdenklich wusch sie sich ebenfalls Hände und Gesicht an der Quelle und stieg dann wortlos in Maries Sattel. Es kam ihr merkwürdig vor, ein offenes Grab zu hinterlassen, ohne dem Hinterbliebenen sein Mitgefühl auszudrücken.
Schweigend ritt Jana dem Arzt hinterher. Wäre er auch dann zu der Hütte geritten, wenn sie ihn nicht zuvor angeschrien hätte? Schweigend verlor sich Jana in ihren Gedanken.
Der erste Teil der Strecke führte wieder bergauf, aber da der Weg nun deutlich breiter war, konnten die Pferde zügig dahintraben. Rechts und links von ihnen lagen dichte Mischwälder aus Fichten, Eichen und Buchen. Der Geruch von feuchtem Moos, Pilzen und moderndem Holz drang Jana in die Nase und ließ sie an Geschichten über Feen und Elfen denken. Nur spärlich drang die Sonne durch das dichte Blätterdach. Die schweren Regenwolken von gestern hatten sich während des Vormittags endgültig verzogen, und nun war der Himmel strahlend blau.
Vogelzwitschern erklang und wurde nur von Janas knurrendem Magen übertönt. Nach der nächsten Weggabelung lichtete sich der Wald, und sie ritten auf eine kleine Anhöhe, von der aus sie einen fabelhaften Ausblick auf ein breites Tal und einen Fluss hatten.
»Wie lange brauchen wir noch bis Passau?«, fragte Jana.
Ohne sich umzudrehen, deutete Doktor Pfeiffer nach vorne. »Die Häuseransammlung dort vorne ist es schon.«
»Der Ort, der aussieht, als liege er auf einer Insel?« Jana hielt sich die Hand über die Augen und blinzelte gegen die Sonne in die Ferne.
»Genau der«, sagte Doktor Pfeiffer. »Hier treffen drei Flüsse aufeinander: Donau, Inn und Ilz. Und in der Mitte stehen die Veste Niederhaus und der Dom.«
»Wart Ihr schon öfter in Passau?«
»Gelegentlich«, sagte der Arzt ausweichend. Jana war klar, dass sie nicht mehr von ihm erfahren würde. So gerne er über wissenschaftliche Themen dozierte, so zurückhaltend war er, wenn es um sein privates Leben ging.
Von nun an wurde der Weg breiter und sandiger. Jana war nicht geübt im Spurenlesen, aber sie hätte schwören können, dass vor ihnen frische Hufabdrücke zu sehen waren, und zwar welche, die nach Passau führten, und andere, die genauso aussahen und in die entgegengesetzte Richtung wiesen. Das war merkwürdig, denn sie waren bis jetzt niemandem begegnet.
»Kann es sein, dass jemand vor uns den Weg benutzt hat?«, fragte sie und deutete auf die Spuren.
»Wir befinden uns jetzt auf einer Straße, die nicht mehr völlig abgelegen ist. Natürlich benutzen sie auch andere Reisende, oder dachtet Ihr, wir wären die Einzigen, die nach Passau wollen?« Er hatte wieder den Tonfall eines Lehrers, der sich über die sinnlose Frage einer dummen Schülerin ärgert.
Jana verzog den Mund und schwieg beleidigt. Die Maisonne schien nun so kräftig, dass sie unter ihrem Mantel zu schwitzen begann. Sie blieb stehen, zog den Mantel aus, rollte den dicken Wollstoff zusammen und wollte ihn an ihrem Sattel befestigen, doch es gelang
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