Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
sie gerade mal einen Tag und eine Nacht weit von Prag entfernt. Sie versuchte sich auszumalen, was sie noch alles kennenlernen würde, aber es gelang ihr nicht. Sie kannte die Welt einfach nicht gut genug.
Doch eines wusste sie: Doktor Pfeiffer wollte sie in München absetzen, und das galt es zu verhindern. Die Frage war bloß, wie? Zum einen wollte Jana herausfinden, warum ihr Vater sterben musste, und diese Antwort konnte das Buch vielleicht liefern.
Zum anderen – und das war etwas, was Jana auch sich selbst nur ungern eingestand – reizte sie das Abenteuer. So wie ihr Vater stets die Wissenschaft vorgeschoben hatte, um in die Welt hinauszuziehen, tat sie es jetzt mit dem Geheimnis um seinen Tod. Die Freiheit schmeckte so herrlich wie das Brot, dessen Aroma sie immer noch im Mund hatte. Wenn sie erst mal in München waren, würde sich eine Lösung finden, davon war sie überzeugt. Und vielleicht war es ohnehin besser, nicht so genau zu planen, sondern die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen.
Ohne es zu bemerken, rückte sie immer näher an den Körper des Wissenschaftlers, der eine anziehende Wärme ausstrahlte. Als ihr schließlich vor Müdigkeit die Augen zufielen, lag sie Rücken an Rücken mit ihm und konnte seinen regelmäßigen Atem spüren. Sie war so erschöpft, dass sie über das unerwartet wohlige Gefühl im Bauch überhaupt nicht mehr nachdachte, sondern einfach einschlief.
Prag
N OCH BEVOR DIE S ONNE AUFGING , eilte Jendrik in die Neustadt und klopfte an die Tür des Apothekerhauses. Die Fensterläden der umstehenden Häuser waren noch geschlossen, genau wie die der Apotheke. Wahrscheinlich schlief auch die Apothekerfamilie noch. Umso überraschter war er, dass sich auf sein Klopfen hin sofort die Tür öffnete. Es war Tomek selbst, der da stand. Der Freund wirkte aufgelöst und sichtlich verärgert, seine dunklen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, so als hätte er sie gerade mit beiden Händen durchwühlt.
»Sie ist weg!«, rief er fassungslos.
»Wer ist weg?« Wusste Tomek bereits von der gestohlenen Schrift?
Tomek machte einen Schritt zur Seite und ließ Jendrik eintreten. Im Verkaufsraum saß Karel Jeschek vornübergebeugt auf einem Hocker und schüttelte traurig den Kopf, während er unverwandt auf ein Blatt Papier starrte, das er in der Hand hielt. Radomila hingegen lief wie ein aufgescheuchtes Huhn auf und ab und schimpfte und fluchte lautstark.
»Diese undankbare Göre! Diese Lügnerin, Betrügerin und Diebin! Sie ist einfach auf und davon, zusammen mit dem Arzt, diesem Taugenichts. Dabei war sie doch mit Tomek verlobt. Alles war bereits geplant, die Hochzeit sollte im nächsten Monat stattfinden. Was werden der Bäcker und die Wirtin vom ›Schwarzen Hirsch‹ sagen, wenn wir das Fest absagen müssen, und was wird nun aus meiner Apotheke?« Die Worte sprudelten so geschwind aus ihr heraus, dass Jendrik der Kopf schwirrte.
Langsam ordnete er die verschiedenen Nachrichten und fasste zusammen: »Verstehe ich das richtig? Jana ist bei Nacht und Nebel mit dem Arzt aus Wien davongelaufen?«
Radomila nickte aufgeregt. »Ich will gar nicht daran denken, wie die Menschen sich die Mäuler über uns zerreißen werden. Diese dumme Ziege macht uns alle zum Gespött von Prag. Dabei wird sie nie wieder einen Mann wie Tomek bekommen.«
»Das stimmt«, sagte Jendrik mit einem Seufzen, doch niemand hörte seine Bemerkung.
Tomek polterte: »Ich werde sofort mein Pferd satteln und ihr hinterherreiten. Sie kann ja noch nicht weit sein. Und wenn ich sie erwischt habe, schleife ich sie an den Haaren zurück nach Prag. Dieses Miststück wird meine Frau, und wenn ich sie dazu zwingen muss!«
Jendrik hätte gerne eingeworfen, dass daraus dann keine gute Ehe werden könne, aber er verbiss sich die Bemerkung. Stattdessen fragte er: »Mit welchem Pferd ist Jana denn unterwegs?«
Plötzlich hellte sich Radomilas Gesicht auf. »Das muss der Grund sein, warum Jana vorgestern zur Schmiedin wollte. Die ganze Stadt wusste, dass die Kovarik das Pferd ihres verstorbenen Manns nicht mehr durchfüttern konnte. Oh, diese elende Betrügerin! Sie hat die Flucht seit Tagen geplant und uns allen etwas vorgespielt, und diese verdammte Katholikin hat ihr den Gaul ihres verstorbenen Mannes sicher auch noch geschenkt, um mir eins auszuwischen. Jeder weiß, dass sie mich nicht leiden kann.«
»Die alte Kovarik soll dich nicht leiden können?«, fragte Tomek erstaunt. »Vorgestern hast du noch gesagt, dass sie eine
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