Das Sündenbuch: Historischer Roman (German Edition)
aufeinanderfolgenden Tagen in der Anlage auftreten und ihre Wagenburg in einer wunderschönen Grünanlage mit Gemeinschaftsbrunnen inmitten der Häuser aufbauen.
Jede Familie besaß ein winziges Häuschen mit Küche, Kamin, einer Wohnstube und mindestens einem Schlafraum. Außerdem gab es jeweils einen kleinen Garten, einen Schuppen und meist einen Verschlag mit Hühnern und vielleicht auch einer Ziege. Jakob Fugger, der bekannte wohlhabende Kaufmann aus Augsburg, hatte diese Wohnanlage mit einer großzügigen Stiftung ermöglicht. Die Menschen, die hier lebten, zahlten eine lächerlich niedrige Miete und mussten dafür lediglich dreimal am Tag in der kleinen Kapelle der Anlage für Jakob Fuggers Seelenheil beten und ein braves, fleißiges Leben führen.
Fuggers Idee trug erstaunliche Früchte. Die Armen, die hier leben durften, waren zufrieden und dankbar. Die meisten gingen einer geregelten Arbeit nach, tranken wenig Alkohol und hatten das Glücksspiel aufgegeben. Die Kinder besuchten eine eigens für sie eingerichtete Schule und lernten dort Lesen und Schreiben, und in einem Nebengebäude gab es eine Krankenstation, die von einem Mönch betreut wurde.
Am Nachmittag des dritten Tages, während Ludwig erneut ein Stück des englischen Dichters aufführen ließ, machte sich Jana allein auf den Weg durch die Anlage.
Noch nie hatte sie von einer Siedlung gehört, die von den Ärmsten der Gesellschaft bewohnt wurde und dennoch so sauber und adrett aussah. In Prag, Passau und München befanden sich, wie in allen Städten, die windschiefen Hütten der Besitzlosen vor der Stadt, außerhalb der Stadtmauern, wo sie schutzlos der Gefahr möglicher Überfälle ausgesetzt waren. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie oft mit Betteln, und die Kinder hatten aufgetriebene Hungerbäuche. An einen Schulbesuch war gar nicht zu denken.
Neugierig spähte Jana über die niedrigen Holzzäune in die winzigen Gärten, wo auf Wäscheleinen saubere Hemden und Hosen hingen. Viele der Gärten waren leer, denn die Bewohner saßen auf den einfachen Holzbänken vor der Schauspielerbühne und bestaunten mit offenen Mündern Shakespeares Hamlet.
Jana kam zu einem langgestreckten Haus am Rand der Siedlung. Auf einer kleinen Steintafel über dem Eingang stand ein lateinischer Spruch aus der Bibel. In einem kleinen Kräutergarten rechts vor dem Eingang blühten Johanniskraut, Kamille und Thymian. Dicke Bienen tummelten sich um die gelben und blauvioletten Blüten. Ihr Summen war das einzige Geräusch an diesem friedlichen Frühsommertag.
Plötzlich erklangen Schritte auf dem Kies. Jana zuckte zusammen und drehte sich um.
»Ach, Ihr seid es bloß«, sagte sie mit Erleichterung in der Stimme.
Doktor Pfeiffer hob die hellen Augenbrauen: »Wen habt Ihr denn erwartet?«
»Keine Ahnung. Es war bloß gerade so friedlich und still.«
»Und nun komme ich und störe die Idylle!«
Jana war sich wie immer nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte.
»Wollt Ihr Euch ansehen, wie man in der Fuggerei die Franzosenkrankheit behandelt, oder sucht Ihr nach einer Kirche, um zu beten? Sollte Letzteres der Fall sein, werdet Ihr hier nicht fündig werden. Die ganze Siedlung ist durch und durch katholisch.«
»Ihr braucht Euch um mein Seelenheil keine Sorgen zu machen. Ich kann ganz gut ohne Predigt und Gottesdienst leben.«
Pfeiffer grinste breit, und wieder tauchten die Grübchen auf seinen Wangen auf. »Ich dachte mir bereits in Prag, dass Ihr eine sehr lockere Auffassung von Glauben habt und es mit dem Kirchgang nicht so ernst nehmt.«
Jana errötete. »Ich habe wenigstens die Ausrede, dass es in vielen Ortschaften gar keine protestantischen Kirchen gibt. Ihr hingegen würdet immer einen Ort finden, wo Gottesdienste abgehalten werden. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr je eine der Kirchen, an denen wir vorbeigekommen sind, betreten hättet.«
Pfeiffers Grinsen wurde noch breiter.
»Wie gut, dass Ihr mich beobachtet und mich auf meine Versäumnisse aufmerksam macht.«
Jana öffnete empört den Mund, um zu erklären, sie beobachte ihn keinesfalls und er könne tun, was er wolle. Aber Pfeiffer ließ sie nicht zu Wort kommen und fragte: »Wollt Ihr nun die Krankenstation besichtigen? Ihr steht direkt davor.« Mit der ausgestreckten Hand zeigte er auf das Gebäude vor ihnen.
»Ich wusste nicht, dass es die Krankenstation ist«, sagte Jana.
»Hier gibt es zwei große Säle mit Kranken. Einer davon ist ausschließlich mit Patienten gefüllt,
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