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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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zurückgeworfenem Kopf und einem verächtlichen Ausdruck auf den schmalen, in den Mundwinkeln herabgezogenen Lippen. Er hatte keine engeren Freunde unter den Kommilitonen, doch seine Meinung und sein Urteil genossen in ihrem Kreis bedeutende Autorität. Woher dieser Einfluß rührte, hätte sich kaum jemand erklären können: ob von seiner selbstsicheren Erscheinung, ob von seiner Fähigkeit, mit allgemeinen Worten das zu fassen und auszudrücken, was die meisten vereinzelt, dumpf und unklar suchten und Wünschten, oder ob es daran lag, daß er seine Schlußfolgerungen immer für den entscheidenden Moment aufsparte. In jeder Gemeinschaft gibt es Leute dieser Art: Die einen bestechen durch Sophismen, andere durch eiserne Unerschütterlichkeit ihrer Überzeugungen, die dritten durch ein kräftiges Mundwerk, die vierten durch bösen Spott, die fünften einfach durch Schweigen, das Tiefsinn vermuten läßt, die sechsten durch ein Feuerwerk angelesener Gelehrsamkeit, manche geißeln mit ihrem Spott alles, was gesagt wird, und viele schüchtern ihre Umwelt ein mit dem schrecklichen Wort »Nonsens!«. »Nonsens!« sagen sie verächtlich zu jeder ehrlichen, vielleicht richtigen, aber bescheiden vorgebrachten Äußerung. »Wieso denn Nonsens?« – »Weil es Quatsch ist, einfach Blödsinn«, antworten sie schulterzuckend, und das ist, als würden sie den betreffenden Menschen mit einem Schlag auf den Kopf um die Ecke bringen. Noch viele Sorten solcher Leute gibt es, die gegenüber Schüchternen, Dankbar-Bescheidenen und oft auch gegenüber großen Geistern die Vorherrschaft behaupten, und zu ihnen gehörte auch Simanowski.
    Immerhin lösten sich gegen Mitte der Mahlzeit bei allen die Zungen, außer bei Ljubka, die weiterhin schwieg, nur »ja« und »nein« antwortete und das Essen kaum anrührte. Am meisten redeten Lichonin, Solowjow und Nisheradse. Der erste entschieden und sachlich, wobei er sich bemühte, hinter fürsorglichen Worten etwas Wesentliches zu verbergen, das ihn im tiefsten Inneren quälte und ihm peinlich war. Solowjow mit jungenhaftem Elan und weit ausladenden Bewegungen, zuweilen mit der Faust auf den Tisch klopfend. Nisheradse leicht zweifelnd und mit Andeutungen, als wisse er, was zu sagen sei, halte es aber zurück. Alle jedoch schien das sonderbare Geschick des Mädchens zu bewegen und zu interessieren, und seltsamerweise wandte sich jeder, wenn er seine Meinung äußerte, ausgerechnet an Simanowski. Der seinerseits schwieg meist und blickte jeden mit hocherhobenem Kopf unter den Zwickergläsern hervor an.
    »So, so, so«, sagte er schließlich, mit den Fingern auf die Tischplatte trommelnd. »Was Lichonin getan hat, ist wunderbar und mutig. Und daß der Fürst und Solowjow ihm unter die Arme greifen wollen, ist auch sehr schön. Was mich betrifft, so bin ich bereit, euer Vorhaben zu unterstützen, so gut ich irgend kann. Aber wäre es nicht besser, wenn wir unsere Bekannte den Weg ihrer sozusagen natürlichen Interessen und Fähigkeiten beschreiten ließen? Sagen Sie, meine Teure«, wandte er sich an Ljubka, »worauf verstehen Sie sich, was können Sie? Nun, irgendeine Arbeit oder so. Nun, vielleicht Nähen, Stricken, Sticken.«
    »Ich kann gar nichts«, erwiderte Ljubka flüsternd, sie war ganz rot geworden, hielt die Augen gesenkt und knetete unterm Tisch ihre Finger. »Ich verstehe hier überhaupt nichts.«
    »Ja, wirklich«, mischte sich Lichonin ein, »wir haben es verkehrt angefangen. Wenn wir in ihrer Gegenwart über sie reden, verwirren wir sie bloß. Seht nur, sie kann ja vor Verlegenheit kaum noch sprechen. Komm, Ljubka, ich bringe dich schnell nach Hause, und in zehn Minuten bin ich wieder zurück. Und unterdessen überlegen wir hier ohne dich, was werden soll. Einverstanden?«
    »Meinetwegen, mir ist alles recht«, antwortete Ljubka kaum hörbar. »Ich mache es, wie Sie wollen, Wassil Wassilitsch. Nur nach Hause möchte ich nicht so gern.«
    »Warum denn das?«
    »Allein fühle ich mich dort nicht wohl. Ich warte lieber auf dem Boulevard, ganz vorn auf der Bank.«
    »Ach so!« besann sich Lichonin. »Das war Alexandra, die ihr so einen Schreck eingejagt hat. Der werde ich's zeigen, der alten Eidechse! Nun komm, Ljubotschka.«
    Schüchtern, irgendwie verstohlen, reichte sie jedem die Hand und ging mit Lichonin hinaus.
    Ein paar Minuten später kam er wieder und setzte sich auf seinen Platz. Er spürte, daß in seiner Abwesenheit über ihn gesprochen worden war, und sah sich unsicher im Kreise

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