Das Syndikat
Hand über das Pflaster an der Augenbraue. Ein paar Schnittwunden, das war alles. Du hast überlebt! , brüllte die Stimme in ihr, mit welchem Recht? Warum du?
Sie hörte nicht mehr zu. »Ich will nach Hause«, sagte sie nur, und mich bewusstlos trinken.
»Aber wenn du eine Kopfverletzung –«
»Fahr mich nach Hause!« Sie wollte in einen traumlosen Schlaf fallen und nie wieder aufwachen.
Die Hälfte unseres Lebens ist vielleicht schon vorbei . David, was für eine Täuschung ...
»Islamfundamentalisten«, Michael schlug aufs Lenkrad, »was haben wir euch getan? Höllenhunde! Geht zum Teufel! Bringt euch doch selber um!«
Im letzten Moment brachte er den Wagen vor einer roten Ampel zum Stehen. Er schluckte, sah zu ihr hinüber und sagte mit gepresster Stimme: »Karen, ich ... ich will dich nicht verlieren.«
Sie wollte auch etwas sagen, etwas wie Ich dich auch nicht oder Ich liebe dich , sie wollte sich an ihn schmiegen, weil das vielleicht das Einzige war, was diese klaffende Schlucht zwischen ihnen überwinden würde, aber sie konnte sich nicht rühren, alles in ihr war erfroren, so kam es ihr vor, und ihr Herz war ein kalter Kristall.
In Afghanistan, in Kabul, hatte sie jeden Tag damit rechnen müssen zu sterben. Der Tod konnte auf dem Markt lauern, auf der Straße im Stau, in den Säcken auf dem Rücken der Esel, überall. Wie lange hatte sie gebraucht, um nach ihrer Rückkehr nicht in jedem Mann, der ein Handy in der Hand hielt, einen Attentäter zu sehen und nicht in jedem Abfallsack eine Bombe zu vermuten? Und dann ... heute ... in einem harmlosen Restaurant, in einer zivilisierten Stadt, schlug er zu, der Tod, und traf nicht sie, sondern David. Sie konnte das alles nicht begreifen, verzweifelt suchte sie nach einer Logik, aber sie fand keine.
Natürlich sollte sie dankbar sein, dass sie überlebt hatte, aber da waren nur diese Fragen. Warum er? Warum nicht ich? Warum all die anderen Menschen? So viele Tote ... Warum dieses Restaurant? Wie so oft gab es womöglich gar keine Antwort. Karen, manchmal gibt es keine Logik hinter den Dingen, weil die Menschen meist nicht aus Logik handeln, sondern aus Emotion . Zitat Ende: Jane Burnett.
»Es tut mir leid ...« Seine Stimme drang zu ihr, und sie war nicht sicher, ob er schon mehr gesagt hatte, ob sie es einfach nicht gehört hatte. »... dass ich vorhin so reagiert habe ... Wirklich, es tut mir leid wegen David.«
»Schon gut«, sagte sie leise. Es spielte keine Rolle mehr.
Sie starrte weiter durch die Scheibe auf all die zuckenden, flackernden Lichter der Autos, der Ampeln und der Leuchtreklamen, und auf einmal glaubte sie, sie pulsierten alle im selben Rhythmus, als gehörten sie alle zu einem gigantischen Organismus, der von einer dunklen, fremden Kraft gesteuert wurde.
»Hotel Bristol ... «, murmelte sie. »Fahr da vorn rechts rein.«
»Aber das ist ein Umweg.«
»Na und!«, schrie sie.
Schweigend bog er rechts ab.
Dort hatte David immer übernachtet, wenn er in Brüssel war.
Hotel Bristol . Die Leuchtbuchstaben über dem Eingang wurden immer größer.
Sie pochte gegen das Fenster. »Hier, halt an!«
»Was willst du denn da?«
Sie wusste es nicht. Da war nur dieser Drang, ihn nicht gehen zu lassen, nicht so einfach. Sie wollte in sein Hotelzimmer, seinen Koffer sehen, seine Sachen anfassen ... Ich hab ihn fotografiert ... zwei tödliche Schüsse in den Kopf ... Und plötzlich wusste sie, warum sie dorthin musste. David hatte ihr ein Vermächtnis hinterlassen. Deshalb hatte sie überlebt, das wurde ihr jetzt klar, es war die einzige Erklärung. Die Wahrheit – sie musste die Wahrheit finden, damit David nicht umsonst gestorben war. An diesen Gedanken klammerte sie sich. Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ...
»Du willst doch wohl nicht im Ernst ... Was soll das für einen Sinn haben?«
Was hat schon einen Sinn?, dachte sie bitter, während ihre verbundene Hand sich mit dem Türgriff abmühte. Sie würde notfalls auch aus einem fahrenden Auto springen, was wäre das schon? Nach alldem. »Halt an!«
Mit einem Ruck blieb der Wagen stehen. Knapp hundert Meter vor dem Hotel. Die Leuchtbuchstaben bohrten sich in den Nachthimmel, wie ein schlechtes Omen.
Michael rief irgendwas hinter ihr her, doch sie war schon draußen, stapfte durch den Schneematsch, hin zu diesen Neonbuchstaben, während Michaels Rufe verhallten, als kämen sie aus einer anderen Zeit.
11
Durch die Drehtür und dann direkt zur Rezeption, sagte sie sich, nicht zögern.
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