Das System
schlossen sich Wiesen und Felder an. Noch hatte ihn kein Polizist angehalten. Vielleicht würde es ihm gelingen, durch das
Netz zu schlüpfen, wenn er sich von Hauptstraßen und öffentlichen Verkehrsmitteln fernhielt.
Andererseits schien ihm sein Ziel, Münster, in immer weitere Ferne zu rücken. Deutschland war ihm immer so klein vorgekommen,
Hamburg und München nur eine Flugstunde voneinander entfernt. Jetzt begriff er, wie es gewesen sein musste, als es noch keine
Autos und Eisenbahnen gab, als die Entfernungen in Tagesritten gemessen wurden. Und ihm wurde klar, dass er keine Ahnung hatte,
wohin er eigentlich ging.
Die Wohnstraße wurde zu einer dünnen Nebenstraße, kaum mehr als ein Feldweg. Es dauerte eine Viertelstunde, bis ihn das erste
Auto überholte. Das war einerseits gut, weil die Chance gering war, dass die Polizei ihn hier suchte. Andererseits fiel ein
einsamer Fußgänger umso mehr auf.
Er bog in einen Feldweg ein, der in Richtung eines kleinen Wäldchens führte. Im Schutz der Bäume entdeckte er einen umgefallenen
Stamm. Er breitete ein Papiertaschentuch aus, um seine schwarze Jeans vor Schmutz zu schützen, setzte sich darauf und überlegte,
was er jetzt tun sollte. Sicher hatte die Polizei inzwischen seine Spur aufgenommen. Er konnte sich vielleicht eine Weile
hier im Wald verstecken. Doch was dann?
|87| Plötzlich kam ihm seine Situation vollkommen hoffnungslos vor. Die Energie, die er am Abend zuvor gespürt hatte, war verflogen.
Je länger er auf der Flucht war, desto tiefer verstrickte er sich in dem Netz, das der Mörder gespannt hatte. Desto geringer
war die Wahrscheinlichkeit, dass er etwas tun konnte, um seine Unschuld zu beweisen. Er musste sich stellen, das war die einzige
Möglichkeit. Aber war es dafür nicht längst zu spät? Durch seine Flucht hatte er sich noch verdächtiger gemacht. Die Polizei
würde seine Ergreifung als Erfolg verbuchen, und niemand würde mehr auf die Idee kommen, nach dem wahren Täter zu suchen,
sosehr er auch seine Unschuld beteuerte. Mildernde Umstände, das war das Beste, was er erhoffen konnte.
Er konnte nicht weg, er konnte sich nicht stellen, er konnte nichts tun. Er saß in der Falle.
Franzie fiel ihm ein. Wenn er nicht von sich aus zu ihr gelangte, konnte sie vielleicht zu ihm kommen! Er holte sein Handy
aus der Manteltasche. Er war ein notorischer Handymuffel, der es hasste, ständig erreichbar zu sein, deswegen schaltete er
es nur ein, wenn er selbst telefonieren wollte.
»Hallo, du hast die Nummer von Franziska Herberts gewählt. Das finde ich total nett. Aber blöderweise bin ich gerade unter
der Dusche oder auf dem Klo oder nicht da oder habe einfach keine Lust ranzugehen. Ich kann nicht versprechen, dass ich zurückrufe,
wenn du eine Nachricht hinterlässt. Du kennst mich ja, wahrscheinlich.«
Mist. Mark legte auf, sperrte die Tastatur des Handys und steckte es in die Manteltasche. Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter
erschien ihm keine gute Idee. Er würde sich eine Weile versteckt halten und es später noch mal versuchen.
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|88| 21.
Buchholz/Nordheide,
Freitag 8:21 Uhr
»Und einen Hubschrauber«, rief Dreek in sein Handy. »Ich brauche einen Hubschrauber! Der Flüchtige ist wahrscheinlich zu Fuß
unterwegs und verkriecht sich hier irgendwo … Kosten, was heißt hier Kosten? Hier geht es um Mord, und … Natürlich wissen
wir, dass er der Mörder ist! Wir haben mehr als genug Indizien, und er ist flüchtig, also was wollen Sie noch? Hören Sie,
wollen Sie die Verantwortung übernehmen, wenn der Kerl noch jemanden umbringt? … Gut. Bis nachher.«
Unger verzog das Gesicht. Er würde eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen, sollte sich diese Aktion als Flop herausstellen
und Helius am Ende gar nicht der Mörder sein.
Sein junger Kollege beendete das Gespräch und ließ seinen Blick über die kleine Armee von Polizisten schweifen, die um den
Bahnhof herumwuselten. Er gebärdete sich wie Napoleon, der seine Truppen vor Austerlitz in Stellung brachte. Für ihn schien
das alles ein aufregendes Spiel zu sein. Er wollte sicher die Scharte auswetzen, die er sich bei Helius’ Flucht aus Andresens
Wohnung geholt hatte, und wirkte hellwach und energiegeladen.
Unger dagegen fühlte sich hundeelend. Gestern Abend nach der missglückten Verhaftung war er noch einmal in den Übungsraum
zurückgekehrt, der allerdings verlassen gewesen war. Er hatte die Jungs in ihrer
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