Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Gefühl, nein, die Erinnerung, dass ich schon einmal hier gewesen sein musste.
Doktor Overlook blickte mich an. Sie wirkte interessiert, als würde man nicht alle Tage einen Menschen m it Amnesie vor sich haben. I ch musste zugeben, dass ich mich in ihrer Gegenwart wohl fühlte. Es bestand ein Band des Vertrauens und irgendwie hoffte ich, dass die Doktorin mit den grünen Spiralaugen (die ich offenbar doch vergessen hatte) mir helfen konnte. Zumindest wirkte sie, als würde sie mir helfen wollen .
»Für Amnesie, also einen Gedächtnisverlust, gibt es mannigfaltige Ursachen. Natürlich ist es schwierig für einen Betroffenen, diese festzustellen, wenn man sich an nichts erinnert. Die häufigste Ursache ist ein organischer Defekt des Gehirns. Ein Unfall, ein Tumor, eine Gehirnoperation, Schlaganfall oder irgendetwas, das dazu geführt hat, dass Bereiche des Gehirns verletzt oder beschädigt wurden.« Sie hob die Augenbrauen.
Ich schüttelte den Kopf. »Solange mein Gehirn sich nicht in meinem rechten Oberschenkel befindet, scheidet diese Ursache aus.«
»Ein traumatisches Erlebnis? Der Tod des eigenen Kindes, der Frau? Eine andere nahestehende Person? Sie sind Feuerwehrmann. Gab es einen Unfall? Irgendetwas, das Sie aus der Bahn geworfen hat?«
»Wäre möglich. Da stoße ich an die Grenze meiner Erinnerung. Aber ausschließen kann ich das nicht.«
»Weiters hätte n wir dann langjährigen Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch.«
Ich spürte Schweiß aus meinen Poren rinnen. Doktor Overlook blickte mich prüfend an. Ich nickte.
»Alkohol – ja. Drogen – nein.«
»Okay. In Verbindung mit einem traumatischen Erlebnis und erhöhtem Stress eine mögliche Ursache.«
»Und was kann ich dagegen tun? Gegen diese Amnesie?«
»Nun, wenn es sich um Stress und Alkohol handelt – warten. Kommt darauf an, wie sehr dieser Missbrauch ihr Gehirn geschädigt hat. Was den traumatischen Vorfall angeht. Den kann man vermutlich therapieren. Dazu müssen Sie allerdings wissen, welcher Vorfall das war.«
»Es geht nicht nur um den Gedächtnisverlust. Es sind auch diese Träume und … «
»Wahnvorstellungen?«, vervollständigte Doktor Overlook meinen Satz.
Ich nickte.
»Ihre Träume. Sind es … schreckliche Träume? Wie aus einem Horrorfilm?«
»Ja, Horrorfilm trifft es ganz genau. Und diese Halluzinationen . Als würden die Träume wahr werden.«
»Mister Reynolds, sind Sie sicher, dass Sie keine Drogen genommen haben? Damit meine ich kein Heroin oder andere harten Drogen. Ich meine Betäubungsmittel oder Tabletten. Nehmen Sie Beruhigungstabletten? Schlaftabletten?«
Schlaftabletten. Sofort war dieses Bild vor meinen Augen. Das Päckchen im Motelzimmer. Ja, es waren Schlaftabletten. Mit ihnen wollte ich mir das Leben nehmen. Wie hießen sie?
»Night. Und ein Wort stand noch davor. Silent Night.«
Die Doktorin tippte in die Tastatur ihres Laptops. »Silent Night. Die starken?«
»Ja, strong stand auf der Packung.«
Die Doktorin lehnte sich abermals zurück. Nun nickte sie . »Das ist es. DHM. Diphenhydramin. Eine Substanz, die stark ruhigstellend wirkt und in der Medizin für Schlafmittel verwendet wird. Diese Substanz kann bei starker Dosierung zu Wahnvorstellungen, Paranoia, Realitätsverlust und auch Gedächtnisverlust führen.«
»Wie sieht‘s bei einer … Überdosis aus?«
»Sofern man sie überlebt«, sagte Doktor Overlook betont langsam und ich erkannte Sorgenfalten auf ihrer Stirn. »Kann ich nicht sagen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das Gehirn unkontrolliert Flashbacks liefert, also ohne System immer wieder in diese Horrortrips zurückspringt.«
Unkontrollierte Horrortrips. Besser konnte man den Wahnsinn nicht beschreiben. Ich war also nicht total irre. Es gab eine plausible Erklärung für den Horror, den ich durchgemacht hatte. In Verbindung mit meiner Alkoholsucht und einem traumatischen Erlebnis haben die Schlaftabletten mein Gehirn k.o. geschlagen. Und dann meine Zeit im Krankenhaus. Wer weiß, welche Wechselwirkung die Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmittel mit dem Gift hatten, das sich aufgrund der Überdosis immer noch in meinem Gehirn befand? Und dann das Betäubungsmittel im Fahrstuhl, das mir der Arzt injizierte – kurz darauf erlebte ich diese Horrorszene auf der Straße. Ja, es ließ sich alles medizinisch erklären. Zumindest das Warum. Der Inhalt der Träume blieb nach wie vor ein Rätsel. Ob Doktor Overlook auch hier eine Erklärung hatte? Einen Versuch war es wert.
»Wenn
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