Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
weitere Papiere hervor und wunderte mich, was ich alles aufgehoben hatte. Dabei ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass all das mein Leben dokumentierte, dass es mir in gewisser Weise einen Rückschluss erlaubte, was ich die letzten Jahre gekauft, welche Versicherungen ich abgeschlossen und welch sinnloses Zeug ich gesammelt hatte. Ich war überzeugt, dass diese Ding e einiges über mich aussagten u nd sollte meine Erinnerung nicht zurückkehren, würde ich jedes einzelne Blatt Papier durchlesen und mich auf eine Zeitreise in meine Vergangenheit begeben.
Doktor Overlooks Mappe war nicht auffindbar. Ich durchsuchte alle Schränke, sah auch in den Küchenschränken und dem Kühlschrank nach, fand aber keinen Hinweis auf irgendwelche Zeichnungen. Aus irgendeinem Grund musste ich sie versteckt haben.
»Vielleicht hat sie jemand geklaut?«, vermutete Dave. »Die Puppe ist schließlich auch verschwunden. Vielleicht hat der Mörder alle Hinweise mitgenommen. Er war ja in der Wohnung und hat die Zeitung hergelegt. Da wäre es durchaus möglich, dass er die Mappe mitgenommen hat.«
»Wäre möglich«, gab ich ihm Recht. »Aber ich glaube es nicht. Mein Vater wollte , dass ich die Zeichnungen bekomme. Sonst hätte er sie schon im Irrenhaus beseitigt. Nein. Ich weiß, dass diese verfluchten Zeichnungen hier irgendwo sind. Ich habe sie versteckt. Nur wo?«
Ich setzte mich auf den Couchsessel. Dave hatte nun wieder eine liegende Position eingenommen und wirkte, als würde die Müdigkeit langsam aber sicher die Kontrolle über seinen Körper übernehmen. Während ich beobachtete, wie Dave eine möglichst gemütliche Stellung auf der Couch suchte , fiel mir auf, dass i ch nicht im geringsten müde war, obwohl ich nur ein paar Stunden länger als Dave geschlafen hatte . Vermu tlich lag es an der Aufregung u nd sicherlich auch an der Angst, dass einer dieser Horrorträume im Dunkeln meines Gehirns auf mich wartete.
Ich betrachtete das Chaos auf dem Boden und versuchte noch einmal herauszufinden, warum ich diese Zeichnungen versteckt haben könnte. Und falls ich sie versteckt hatte – wo ?
Dann hatte ich das Bild vor Augen. Der kniende Feuerwehrmann. Die Fotografie i m Schlafzimmer. War es möglich, dass ich mich erinnerte? Wie im Pilgrim? Ja. Ich hatte es von der Wand genommen, auf das Bett gelegt und die Zeichnungen hinter der eigentlichen Fotografie verstec kt. Nur warum ich sie versteckt hatte – daran erinnerte ich mich nicht.
Dave hatte offenbar eine entsprechende Liegeposition gefunden. Die geschlossenen Augen und das gleichmäßige Atmen verrieten, dass die Müdigkeit gesiegt hatte.
Ich schlich in das Schlafzimmer, nahm das Bild von der Wand, legte es auf das Bett und öffnete den Rahmen. Ich hatte mich nicht geirrt: Fünf Blatt Papier waren hinter der Fotografie versteckt. Auf jedem befand sich eine Zeichnung, mit Wachsmalstiften gemalt.
Ich breitete die Zeichnungen auf dem Bett aus. Doktor Overlook hatte Recht gehabt: Diese Bilder zeigten die Phantasien eines abartigen, sadistischen und total durchgeknallten Psychopathen – und den Stoff, aus dem meine Träume gemacht waren.
In jedem Bild konnte ich den leidenschaftlichen Wahnsinn des Malers spüren. Die Linien waren mit Überzeugung gezogen. Kein zaghaftes Gekritzel, sondern dicke durchgehende Striche, als hätte er jedes Bild zig Mal gezeichnet, bis er genau wusste, wo und wie er den Stift ansetzen musste, um die höchstmögliche Wirkung zu erzielen. Das erste Bild zeigte fünf Mädchen in einem Rollstuhl. Alle hatten kurze Kleider an, jedes Kleid mit anderer Farbe. Sie trugen Ballerinas an dünnen Beinchen. Schuhe und Kleider stimmten farblich überein. Ihre Arme ruhten auf den Armlehnen der Rollstühle, die Münder und A ugen weit aufgerissen. Aus ihren Körper n schlugen Flammen in grellem Orange. Dunkler Rauch stieg in einen schwarzen Himmel. Hinter den Rollstühlen hockte ein riesiger Wolf mit roten Augen. Er fletschte die zackigen Zähne und hielt eine Pfote über die Mädchen. Fünf Krallen waren zu erkennen. Die Spitzen der Krallen waren mit purpurnem Rot nachgezogen.
Das zweite Bild zeigte ein Mädchen mit rotem Kleid. Es schien von ihrem Rollstuhl wegzurobben. Doch der Wolf hielt es mit einer Pfote am Kopf fest. Aus der anderen Pfote ragte eine Kralle. Die Spitze verschwand im Rücken des Mädchens. Neben dem Mädchen lagen die anderen. Ebenfalls auf dem Bauch. Blut rann aus ihren Körpern. Alle hatten die Münder und Augen weit aufgerissen.
Auf
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