Das Tao der Physik
dessen
Teile nur durch ihre Beziehung zum Ganzen definiert werden
können. Die aus der Atomphysik hervorgehende Weltanschauung wird mit den Worten eines tantrischen Buddhisten,
Lama Anagarika Govindas, gut zusammengefaßt:
Der Buddhist glaubt nicht an eine unabhängig oder getrennt existierende äußere Welt, in deren dynamische Kräfte er sich hineinprojizieren könnte. Die äußere Welt und seine innere Welt sind für ihn
nur zwei Seiten desselben Gewebes, in dem die Fäden aller Kräfte
und aller Ereignisse, aller Formen des Bewußtseins und ihrer Objekte zu einem unauflöslichen Netz von endlosen, sich gegenseitig
beeinflussenden Zusammenhängen verwoben sind. 17
Jenseits der Gegensätze
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Wenn die östlichen Mystiker sagen, daß sie alle Dinge und Ereignisse als Manifestationen einer Grundeinheit erfahren, so
heißt das nicht, daß sie alle Dinge für gleich erklären. Sie erkennen die Individualität der Dinge, sind sich aber gleichzeitig
bewußt, daß innerhalb der alles umfassenden Einheit alle Unterschiede und Gegensätze relativ sind. Unserem normalen
Bewußtsein fällt es außerordentlich schwer, diese Einheit aller
Kontraste – und speziell die Einheit der Gegensätze – zu akzeptieren. Sie liegt der östlichen Weltanschauung zugrunde, ist jedoch gleichzeitig einer ihrer verwirrendsten Züge. Gegensätze
sind abstrakte Begriffe, die in das Reich der Gedanken gehören, und somit sind sie relativ. Allein schon durch die Konzentration unserer Aufmerksamkeit auf irgendeinen Begriff schaffen wir dessen Gegensatz. Wie Lao-tzu sagt: »Wenn alle in dieser Welt die Schönheit als schön ansehen, dann gibt es auch
Häßlichkeit; wenn alle die Güte als gut ansehen, dann gibt es
auch das Böse.« 1 Die Mystiker überschreiten also dieses Reich
der intellektuellen Begriffe und werden dabei der Relativität
und polaren Beziehung aller Gegensätze gewahr. Sie erkennen,
daß Gut und Böse, Lust und Schmerz, Leben und Tod keine absoluten, zu verschiedenen Kategorien gehörenden
Erfahrungen
sind, sondern nur zwei Seiten derselben Realität; die Extreme
eines einzigen Ganzen. Das Bewußtsein, daß alle Gegensätze
polar und somit eine Einheit sind, gilt als eins der höchsten
Ziele des Menschen in den spirituellen Traditionen des Ostens.
»Sei in Wahrheit ewig, jenseits irdischer Gegensätze!« lautet
Krishnas Rat in der Bhagavad Gita, und der gleiche Rat wird
den Anhängern des Buddhismus gegeben. So schreibt D. T.
Suzuki:
Die Grundidee des Buddhismus ist, über die Welt der Gegensätze
hinauszugehen, über die aus intellektuellen Unterscheidungen und
emotioneilen Verunreinigungen aufgebaute Welt, und die spirituelle Welt der Unterschiedslosigkeit zu erkennen, die das Erreichen
einer absoluten Ansicht beinhaltet. 2
Die ganze buddhistische Lehre, ja, die gesamte östliche Mystik,
dreht sich um diese absolute Ansicht, die in der Welt von acintya, oder »Nicht-Denken«, erreicht wird, wo die Einheit aller
Gegensätze zur lebendigen Erfahrung wird.
Mit den Worten eines Zen-Dichters:
In der Abenddämmerung verkündet der Hahn das Morgengrauen,
um Mitternacht die helle Sonne. 3
Das Wissen um die Polarität aller Gegensätze, daß Licht und
Dunkel, Gewinnen und Verlieren, Gut und Böse nur verschiedene Aspekte des jeweils gleichen Phänomens sind, ist eins der
Grundprinzipien der östlichen Lebensweise. Da alle Gegensätze voneinander abhängen, kann ihr Konflikt niemals den totalen Sieg einer Seite bringen, sondern er wird immer eine Manifestation des Zusammenspiels der beiden Seiten sein. Im
Osten ist daher ein rechtschaffener Mensch nicht einer, der die
unmögliche Aufgabe unternimmt, nach dem Guten zu streben
und das Böse zu eliminieren, sondern vielmehr einer, der das
dynamische
Gleichgewicht zwischen Gut und Böse halten
kann.
So ist die Einheit der Gegensätze in der östlichen Mystik zu
verstehen. Sie ist nie statisch, sondern immer ein dynamisches
Zusammenspiel von zwei Extremen. Dieser Aspekt wurde am
stärksten von den chinesischen Weisen durch die Symbolik der
archetypischen Pole Yin und Yang betont. Sie nannten die hinter Yin und Yang stehende Einheit das Tao und sahen dieses als
einen Vorgang ihres Zusammenspiels: »Das, was jetzt das
Dunkel, jetzt das Licht erscheinen läßt, ist das Tao.« 4 Die dynamische Einheit polarer Gegensätze kann durch das einfache
Beispiel einer Kreisbewegung und deren Projektion illustriert
werden. Angenommen, wir lassen einen Ball kreisen. Wird
diese Bewegung auf einen
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