Das Tibetprojekt
denn auch? Sie sind die Herren über die Energien des Universums.«
Decker runzelte die Stirn. »Patrick, ich fange an, mir Sorgen um Sie zu machen.«
»Danke, aber das brauchen Sie wirklich nicht. Ich weiß, dass ich meinen Weg gefunden habe. Als wir uns das erste Mal trafen,
ja, da ging es mir schlecht. Als ich den Dalai Lama noch nicht kannte, fand ich das Leben unerträglich. Ich habe das Leben
nicht verstanden, kam mit nichts klar und wusste nicht weiter. Aber jetzt, jetzt finde ich innere Ruhe und Gelassenheit. Ich
bin mit mir und der Welt im Einklang. Und ich weiß, dass der Dalai Lama die Wahrheit sagt. Wir und alle künftigen Generationen
können so viel von ihm lernen. Der Buddhismus zeigt Ihnen, wie Sie sich öffnen und die Dinge klarer sehen.«
Decker goss Milch in den Tee und sah zu, wie sie sich beim Umrühren langsam verteilte. »Ich wusste gar nicht, dass mein Blick
vernebelt ist.«
»Ihre Einstellung ist der Anfang allen Übels der Welt. Sie sehen einfach nicht.«
»Patrick, entdecke ich hier bereits die Anfänge von religiöser Intoleranz gegenüber Andersdenkenden?«
»Nein. Wir achten das Leben. Sie handeln ja nur aus Unwissenheit heraus, Dr. Decker.«
Decker lachte. »Mögen Sie noch etwas Tee?«
»Danke, gern.«
Decker sah auf die Uhr. Die Zeit wurde jetzt wirklich |99| knapp. »Patrick, ich muss leider an dieser Stelle abbrechen. Aber ich werde mich mit Ihren Worten sehr genau befassen und
vielleicht können wir uns noch mal treffen. Ich würde Ihnen gern noch was dazu sagen, aber jetzt geht es wirklich nicht.«
Patrick schaute ihn verdutzt an. »Ich dachte, Sie schmeißen mich jetzt raus, weil Sie genug haben und ich Sie nerve.«
»Da kennen Sie mich schlecht.« Decker zeigte auf seine Koffer. »Ich muss verreisen, aber in einer Woche bin ich hoffentlich
wieder hier, und dann habe ich vielleicht etwas, das Sie interessieren wird.«
»Okay. Heißt das, Sie befassen sich derzeit wirklich näher mit dem Thema?«
»Auf gewisse Weise, ja.«
Patrick trank seinen Tee aus, stand auf und ging zur Tür. »Vielen Dank für das Frühstück!«
Decker winkte ihm nach. »Bis bald!«
Er ahnte allerdings nicht, wie schnell er den jungen Mann wiedersehen würde.
|100| 7
Stahlmanns Büro befand sich im Souterrain des Botschaftsgebäudes in Peking, wo sich außer dem umfangreichen Archiv, das noch
bis in die Kaiserzeit zurückreichte, auch die Computerräume befanden. Der Attaché für Sicherheitsangelegenheiten saß an seinem
Schreibtisch und dachte nach. Dass sein relativ großes Zimmer kein richtiges Fenster und keinen Ausblick hatte, war ihm egal.
Er war ja nicht zum Vergnügen hier, dies war sein Gefechtsstand, und da war ihm die Bunkeratmosphäre ganz recht.
Der Kurzbesuch in Frankfurt hatte ihn äußerst beunruhigt. Er betrachtete das Foto mit dem toten Professor und dachte dabei
an die schöne Chinesin in Deckers Luxusappartement. Was hatte Li Mai dort zu suchen?
Sie hatte Dr. Decker überzeugen können. So viel war klar. Aber welchen Auftrag hatte sie sonst noch? Wie viel wusste sie – und vor allem:
Was davon würde sie Decker verraten.
Stahlmann blickte auf sein Telefon, dann auf die Uhr. Sechzehn Uhr dreißig. In Paraguay war es jetzt zwölf Stunden früher.
Egal. Die Zentrale dort musste auch um diese Uhrzeit besetzt sein.
Er rang mit einer schweren Entscheidung. Es gab einfach keine Erklärung. Weder für das, was er auf dem Foto |101| sah, noch für das Auftauchen von Li Mai. Verzweiflung und Panik ergriffen ihn.
Er sah auf die andere Seite seines Schreibtisches auf die Unterlagen zur Vorbereitung des Gipfeltreffens, die das Wappen der
Bundesrepublik Deutschland trugen. Er lachte verächtlich. Dieses schwache und würdelose Land war ohne Bedeutung für ihn. Seinen
wahren Eid hatte er auf eine ganz andere Fahne abgelegt. Die wieder wehen würde. Dafür trugen sie Sorge. Im Verborgenen.
Die Überwachung des großen Ziels und der Schutz des heiligen Ortes in Tibet – dafür war er »Attaché für Innere Angelegenheiten«
in China geworden. Dafür war dieser Posten vor langer Zeit in direkten geheimen Verhandlungen mit dem später auf tragische
Weise verunglückten Lin Piao geschaffen worden, als er noch Maos Stellvertreter war, und dafür hatte auch Stahlmann seit einem
Vierteljahrhundert gearbeitet. Heute fragte keiner mehr, wo dieser Posten eigentlich herkam. Man hatte sich daran gewöhnt.
Und Stahlmann war unentbehrlich –
Weitere Kostenlose Bücher