Das Tibetprojekt
davorgestanden, unbesiegbar zu sein. Von daher kam D-Day keinen Tag zu früh. Und die Amerikaner hatten mit der Operation Paperclip und im Wettrennen mit den Russen alles darangesetzt,
diese Zukunftstechnologien noch während des Krieges in ihre Hände zu bekommen.
Decker schauderte bei dem Gedanken. Hitler war also wirklich auf dem Weg zur Weltherrschaft gewesen. Warum also vor diesem
Hintergrund sein Interesse für den tibetischen Buddhismus? Technik konnte es nicht gewesen sein. Decker besann sich auf das
Gespräch mit Li Mai letzte Nacht. Vielleicht muss man anders an die Sache herangehen – von der Frage der Truppenmoral und
der menschlichen Leistung her; von der psychologischen oder vielleicht sogar von der spirituellen Seite.
Decker überlegte. Li Mai hatte die Kulte der NSDAP und besonders der SS erwähnt. Das führt zu einem ganz anderen Erfolgsfaktor
im Krieg, dem Faktor Mensch. |109| Nicht nur die Technologien waren ja wichtig, sondern auch die Moral, die Motivation einer Truppe. Und auch hier rankten sich
Legenden um die Kampfkraft der deutschen Wehrmacht. Oft schien es, als hätten die Soldaten Unmögliches geleistet. Sie kämpften
wie besessen und gewannen oft Schlachten aus scheinbar ausweglosen Lagen heraus. Ein Heer aus Helden und Übermenschen. Manchmal
waren Drogen im Spiel, um Ängste zu überwinden, Schmerzen zu betäuben und alles aus den Körpern rauszuholen.
Hitlerspeed,
sozusagen. Aber die treibende Kraft war vermutlich der Glaube an die gemeinsame Sache gewesen.
Der Glaube an den Führer und seine Unfehlbarkeit.
Der Glaube ...
Es war bekannt, dass Hitler selbst abergläubisch war. Er interessierte sich sehr für Okkultes und Mystik. Er liebte die germanischen
Legenden. Decker fiel ein, dass Hitler ein Richard-Wagner-Fan war. Offensichtlich liebte er die düstere Welt der Sagen. Die
Festspiele in Bayreuth versäumte er nie, nicht mal als der Krieg bereits in vollem Gang war. Vielleicht lebte er innerlich
in einer Fantasiewelt? Vielleicht nahm er die Oper für bare Münze. Er wäre nicht der erste Größenwahnsinnige gewesen, der
sich nicht um die Realität kümmert. Und er wäre nicht der erste Irre gewesen, der es gerade durch seinen pathologischen Größenwahn
und seine eigene Überzeugung schafft, andere zu faszinieren und ein ganzes Land in den Abgrund zu reißen. Der Glaube kann
ja bekanntlich Berge versetzen. Woran glaubte dann Hitler?
|110| Plötzlich kam Decker ein naheliegender Gedanke: Vielleicht glaubte Hitler wirklich an die Inhalte von Wagners Werken, an den
Ring der Nibelungen ...
oder – sein Atem stockte – die
Götterdämmerung
.
Decker erstarrte. Der Gedanke, der sich den Weg in sein Bewusstsein bahnen wollte, schien erst nebulös, dann tauchte er langsam
auf und wurde fassbar. Natürlich. Dass er nicht gleich darauf gekommen war.
Das war’s.
So naheliegend – und doch so absurd und fern, dass man es kaum denken konnte. Ihm wurde ganz heiß bei dieser Vorstellung.
Aber vom entsprechenden Standpunkt aus betrachtet machte es durchaus Sinn. Ja, das könnte es sein, das könnte der Grund sein,
warum sich Hitler für das ferne Land im Himalaja interessierte. Alles was es auszeichnete war schließlich: die Religion.
Das einzige, was Hitler noch fehlte. Das letzte Stadium des Größenwahns. Wie einst die Pharaonen. Decker erschrak bei diesem
Gedanken, aber irgendwie passte es. Hitler plante innerlich bereits seinen Weg zur Vollendung. Er hatte alles. Und war alles.
Nur eines noch nicht:
ein Gott.
Kaum hatte Decker das leise ausgesprochen, da schüttelte er den Kopf und lachte über sich selbst. Jetzt litt er bereits unter
Wahnvorstellungen und spann Verschwörungs- und Untergangsfantasien. Aber andererseits musste man sich vielleicht in die innere
Welt eines solchen größenwahnsinnigen Menschen versetzen, um die Ereignisse zu verstehen. Damals und heute. Immerhin ging
es ja bei diesem Toten auf dem Foto auch um einen Ritualmord, so wie es aussah. Und als Halbgott wurde der Führer ja ohnehin
schon verehrt.
Decker ließ seine Blicke über das Mobiliar wandern, |111| ohne irgendwas wahrzunehmen. Also nehmen wir einfach mal an, grübelte er, der Grund für Hitlers Interesse an Tibet war die
Religion. Aber warum dann der exotische und ferne Buddhismus?
Decker nahm das chinesische Dossier in die Hand. Sein Blick fiel auf die Zeilen eines Nachrichtendienst-Mitarbeiters.
»Es ist eine Spekulation, aber
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