Das Tor zur Ewigkeit: Historischer Roman (German Edition)
Erzählungen, dass Catlin Lügen verabscheute, doch in seiner Lage hatte er kaum eine andere Wahl. »Erzähl mir von ihm!«, forderte sie ihn darum auf.
»Von meinem Vater?« Nigel lächelte versonnen. »Er war stets streng mit mir, hat es gut gemeint.« Nigels Augen glänzten, als er von seinem Vater, seiner Kindheit und der viel zu früh verstorbenen Mutter erzählte. »An ihr Antlitz erinnere ich mich kaum. Ein einziges undeutliches Bild habe ich im Kopf, ein verschwommenes Gesicht, das sich zu einem Kuss nähert.« Er räusperte sich verlegen, weil seine Stimme zu versagen drohte. »Ich bewahre es in meinem Herzen auf wie eine Kostbarkeit, die mir niemand nehmen kann.«
Catlin schluckte. Sie beneidete ihn um diese Erinnerung und gönnte sie ihm zugleich. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zum Hals, an dem ein feines silbernes Kreuz an einem schmalen Lederband hing. Es hatte einst ihrer Mutter gehört und war das einzige Andenken an sie.
»Mein Vater kann wunderbar von seinen Reisen erzählen …« Nigel hielt inne. »Konnte«, verbesserte er sich niedergeschlagen. »Er fehlt mir so!« Nigel rang nach Atem und wandte den Blick ab.
Catlin verstand ihn nur allzu gut. Sie vermisste ihren Vater schmerzlich und kämpfte noch immer mit ihrem schlechten Gewissen. Im Gegensatz zu Nigel hätte sie umkehren können. Dann hätte sie ihren Vater wiedergesehen, ihren Traum jedoch ein für alle Mal aufgeben müssen. Dazu aber war sie nicht bereit. Noch nicht.
Am Nachmittag des zweiten Tages – sie ritten schon seit einer Weile schweigend nebeneinanderher – überholten sie auf der einsamen Landstraße einen kleinen Jungen. Das Kerlchen schien mutterseelenallein unterwegs zu sein und stapfte mit hängendem Kopf vorwärts. Catlin runzelte die Stirn. Das Kind trug eine winzige Mönchskutte – wie konnte es da ohne Begleitung sein? Sie zügelte ihr Pferd.
»Was ist?« Nigel, der seit der Mittagsrast nur stumm vor sich hin gestarrt hatte, musterte sie verwundert und hielt sein Reittier ebenfalls an.
»Der Junge!« Catlin drehte sich im Sattel um und spähte in seine Richtung. »Er scheint ganz allein unterwegs zu sein.«
Nigel, der sich nun ebenfalls umwandte, kratzte sich nachdenklich den Nacken. »Vielleicht ist sein Begleiter nur kurz ins Gebüsch gegangen. Warte hier, ich frage ihn.« Er ließ sich vom Pferd gleiten und ging auf den Jungen zu.
Catlin konnte ihre Neugier nicht im Zaum halten, stieg ebenfalls ab und folgte Nigel.
Der Junge hatte ein tränenverschmiertes, schmutziges Gesicht, und die Nase lief ihm.
»Was ist mit dir?«, fragte Nigel und beugte sich zu ihm hinunter.
Der Kleine schluchzte heftig.
»Komm her!«, forderte Catlin ihn auf, trat zu ihm und nahm ihn in die Arme. Sie wiegte ihn hin und her, bis er noch einmal aufschluchzte und zu sprechen anhob.
»Der Prior ist tot. Alle sind tot.« Er vergoss erneut heiße Tränen.
»Wie heißt du?« Catlin nahm einen Zipfel ihres Kleides und trocknete ihm die Tränen.
»Corvinus.« Der Junge zog die Nase geräuschvoll hoch und blickte sie aus großen braunen Augen an. »Mein Vater hat mich zu den Mönchen geschickt, als ich noch klein war«, sagte er und schlug die Augen nieder. »Nun aber kann ich nicht mehr zurück.«
»Aus welchem Kloster kommst du?«
»Saint Edmund.«
Catlin hielt den Atem an.
»Du bist aus Saint Edmundsbury?« Ihr Herz hüpfte.
Der Junge legte den Kopf schräg, dann verneinte er. »Saint Edmund bei Tibenham.« Er rieb sich mit dem Ärmel über die Nase. »Die Mönche sind krank geworden. Erst die Alten, dann auch die anderen. Keiner konnte mehr arbeiten, sie haben nicht mehr gegessen, und dann waren sie tot.«
»Und du – bist du auch krank?« Catlin widerstand dem Drang, vor dem Jungen zurückzuweichen, und strich ihm sanft über das zerzauste Haar.
Corvinus wischte sich mit den flachen Händen die Tränen aus dem Gesicht. »Mir geht es gut«, behauptete er trotzig. »Als die anderen alle tot waren, hat der Prior gesagt, dass ich fortmuss. Aber ich hatte Angst und wollte nicht allein gehen. Ich wusste, dass er auch krank war, aber als wir endlich aus dem Wald heraus waren … Ich dachte, er schafft es.« Der Junge blinzelte zu den beiden hoch. »Doch dann ist er zusammengebrochen und einfach liegen geblieben. Ich hab ihn angebettelt, dass er aufstehen soll, aber …« Er starrte zu Boden, als betrachte er die abgewetzten, viel zu kleinen Sandalen an seinen Füßen.
Ihm muss kalt sein, dachte Catlin, als ihr ein Schauer
Weitere Kostenlose Bücher