Das Ultimatum
wurde spürbar kühler. O’Rourke spazierte mit den Händen in den Hosentaschen die Straße entlang. Er war mit Jeans, Flanellhemd und einer dunkelbraunen Lederjacke bekleidet. Seine linke Hand umfasste den Griff einer Combatmaster-Pistole vom Kaliber .45. Als Kongressabgeordneter hatte O’Rourke die Erlaubnis bekommen, diese Waffe zu tragen. Dass er sie heute bei sich hatte, lag nicht nur an den jüngsten Mordfällen. Er hatte es sich schon vor Jahren angewöhnt, sie zu tragen, um sich gegen die gewalttätigen Banden wehren zu können, welche die Straßen Washingtons heimsuchten. O’Rourke war einst an der Universität ein beinharter Eishockeyspieler gewesen, und bei seiner Statur gab es ohnehin nicht viele, die sich mit ihm angelegt hätten. Doch die Straßenräuber der Hauptstadt ließen sich auch durch eine imposante Statur nicht abschrecken. Das zweitschlimmste Ereignis in O’Rourkes Leben hatte diese Tatsache deutlich gezeigt.
Michaels Hand schloss sich etwas fester um den Griff der Pistole, als er an den gewaltsamen Tod seines Freundes dachte. Vor einem Jahr war Michaels bester Freund nur zwei Blocks vom Kapital entfernt erschossen und ausgeraubt worden. Mark Coleman hatte ebenso wie O’Rourke für Senator Olson gearbeitet. Als Coleman eines Abends von der Arbeit nach Hause ging, wurde er von einem zweiundzwanzigjährigen Drogenabhängigen angegriffen. Ein Augenzeuge hatte gesehen, wie der junge Mann zitternd auf Coleman zuging und ihn, ohne ein Wort zu sagen, in die Brust schoss, ihm die Geldbörse abnahm und davonlief. Die Polizei fasste den Täter schon am nächsten Tag. Er war bereits zweimal wegen bewaffneten Diebstahls verurteilt worden, war aber jedes Mal unter Auflagen aus der Haft entlassen worden, weil die Gefängnisse Washingtons überfüllt waren.
O’Rourke, der sich sogar die Wohnung mit Coleman teilte, machte sich keine Sorgen, weil sein Freund nicht nach Hause kam; Coleman war verlobt und übernachtete oft bei seiner Freundin. Als Michael am nächsten Morgen das Büro betrat, hatte er keine Ahnung, dass sein Freund ermordet worden war. Die Mitarbeiter standen im Empfangsbereich beisammen, und einige weinten, als Michael hereinkam. Es war ein unglaublicher Schock für den jungen Abgeordneten, als er die schlimme Nachricht erfuhr. Michael blickte kurz in die Runde der trauernden Mitarbeiter und suchte instinktiv das Weite.
Er ging zur Mall und weiter nach Westen, am Washington Monument vorbei. Im Gehen kamen ihm tausend Erinnerungen an seinen Freund in den Sinn. Als er das Lincoln Memorial erreichte, blieb er stehen und starrte auf das Kapitol zurück.
O’Rourke betrachtete die große Kuppel und versuchte zu begreifen, wie es sein konnte, dass ein Mensch unweit des Regierungssitzes der Vereinigten Staaten von Amerika umgebracht wurde. Er saß auf den Stufen des Lincoln Memorial und versuchte diesen sinnlosen Tod irgendwie zu verstehen. Er fragte sich, was aus Amerika geworden war, dass ein fleißiger aufrichtiger Mensch wie Mark Coleman, der sein Leben noch vor sich hatte, von irgendeinem kriminellen Drogenabhängigen sinnlos ermordet werden konnte.
O’Rourke dachte an die vielen Sitzungen, an denen er teilgenommen hatte, in denen all die alteingesessenen Senatoren und Abgeordneten mit den Steuermilliarden nur so um sich warfen, als wäre es ein Monopoly-Spiel. Und das Geld ging zumeist an irgendwelche Interessengruppen, deren Unterstützung man bei den nächsten Wahlen brauchte. Wenn es um das Thema Verbrechensbekämpfung ging, so wurden stets große Sprüche geklopft, vor allem wenn die Medien dabei waren, doch in den Sitzungen, wo man unter sich war, stimmte man dann doch eher für hohe Agrarsubventionen oder Rüstungsausgaben als für höhere Investitionen in die Verbrechensbekämpfung.
An jenem Tag war ihm die beinharte Realität des Lebens schmerzhaft bewusst geworden. Ihm wurde klar, dass er hier in Washington nichts ausrichten konnte. Das System war mittlerweile so korrupt, dass der eine oder andere idealistische Abgeordnete absolut nichts verändern konnte. Es waren die altgedienten Männer, die in den Ausschüssen das Sagen hatten und die entschieden, wo die Milliarden hinflossen.
O’Rourke hatte an jenem Tag beschlossen, dass er mit Washington fertig war. Wenn er hier nichts bewirken konnte, wollte er nicht Zeuge oder gar Helfershelfer dieser korrupten Vorgänge werden. Nein, er würde nicht in der Stadt bleiben und vielleicht noch Gefahr laufen, selbst so zu werden wie
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