Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
überquerten die Limmat gut ein halbes Dutzend Mal. Ich schob Mr. Peterson in die Tram und wieder hinaus, und wir fanden das Opernhaus, das Rathaus, das Kunsthaus und das Haus in der Unionstrasse, wo Einstein als Student gelebt hatte. Neben der Tür befand sich eine kleine Tafel, auf der stand: » Hier wohnte von 1896 – 1900 der grosse Physiker und Friedensfreund Albert Einstein.«
Ich übersetzte es für Mr. Peterson ins Englische, wobei ich für Friedensfreund den Begriff »friend of peace« wählte.
Friend of peace? ,fragte Mr. Peterson nach.
» Friedensfreund «, sagte ich auf Deutsch. »Ja, ich glaube, das ist die richtige Übersetzung. Freund bedeutet ›friend‹, und ich meine mich daran zu erinnern, dass Frieden ›peace‹ bedeutet.«
Pazifist? ,schlug Mr. Peterson vor.
»Ja, ich denke, das ist die bessere Übersetzung«, gab ich zu.
Wir gingen nicht in Einsteins Haus hinein. Wir betraten keins der Museen, keine Galerie und keine Kirche, an der wir vorbeikamen. Mr. Peterson meinte, er wolle nicht mehr Zeit als nötig im Inneren eines Gebäudes verbringen, und er wolle ganz gewiss nicht irgendwohin, wo es ruhig sei. Er fühlte sich an der frischen Luft wohl, draußen, wo es belebt war, wo man von einem Ort zum anderen wandern konnte. Er wollte nicht lange stillstehen.
Wir kamen rechtzeitig ins Hotel zurück, um uns auf unseren ersten Termin mit Frau Dr. Reinhardt vorzubereiten, der in Mr. Petersons Hotelzimmer stattfand. Wir saßen auf den kantigen Art-déco-Stühlen, während Dr. Reinhardt uns gegenüber auf dem einarmigen Sofa Platz nahm. Sie war, wie uns Herr Schäfer schon mitgeteilt hatte, eine mitfühlende Frau, aber sie hatte auch viele Fragen. Und weil Mr. Peterson oft detaillierte Antworten geben musste, dauerte das Gespräch ziemlich lange.
Dr. Reinhardt fragte nach der Verletzung an Mr. Petersons linker Hand, und er erzählte ihr, dass er vor ein paar Tagen hingefallen und im Krankenhaus behandelt worden sei. (Den zweiten Teil der Geschichte ließ er weg – wohlweislich, wie ich fand.) Dann stellte sie ihm noch etliche Fragen über seine Krankheit und die Auswirkungen, die PSP auf sein Leben hatte. Das war vermutlich der einfachste Teil der Befragung. Die Tatsachen waren simpel und unstrittig. Viel schwieriger war die Navigation durch die dunklen Gewässer rings um Mr. Petersons ersten Selbstmordversuch und die darauf folgende Behandlung in der Psychiatrie. Diese Fakten waren natürlich Bestandteil seiner Akte – und schon befanden wir uns auf Glatteis, das an Catch-22 erinnerte.
Nach Schweizer Recht, erklärte uns Dr. Reinhardt, war die Verschreibung von Narkotika und Anästhetika streng reglementiert. Das Gesetz, mit dem die Verabreichung dieser Mittel geregelt wurde, war ein beeindruckendes Stück Rechtsprechung mit einem gleichermaßen beeindruckenden Namen. Es nannte sich Betäubungsmittelverschreibungsverordnung . Dieser Name war auch für deutsche Muttersprachler eine Herausforderung, und die waren ja an lange Wörter gewöhnt. Dr. Reinhardt versicherte uns, dass die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung überhaupt nicht kompliziert war, wenn man sich einmal mit ihr beschäftigt hatte, zumindest nicht der Teil, in dem es um die ärztliche Sterbehilfe ging. Im Grunde genommen gab es drei vernünftige Regeln: Der Patient musste das Verlangen zu sterben deutlich ausdrücken. Dieses Verlangen musste dauerhaft bestehen. Der Patient musste bei geistiger Gesundheit sein. Dieser letzte Punkt verursachte Probleme, denn es war medizinischer Standard – gemäß ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme –, jedes Verlangen nach Selbstzerstörung als Beweis für einen gestörten Geist zu betrachten.
Mr. Peterson erklärte auf etwas mehr als einer Seite, wie man ihn ins Krankenhaus eingewiesen und gezwungen hatte, sechs Wochen lang Prozac einzunehmen, obwohl er sich zu keinem Zeitpunkt depressiv gefühlt hatte, jedenfalls nicht, bevor er in die Hände der Psychiater geraten sei.
Die Zwangseinweisung hat mich depressiv gemacht ,erklärte Mr. Peterson. Nicht umgekehrt.
Glücklicherweise war Mr. Petersons angebliche Depression nicht von Bedeutung. Dr. Reinhardt war mit seiner Erklärung mehr als zufrieden. Sie musste nur sicherstellen, dass er jetzt klar denken konnte, und dass sein Wunsch zu sterben nicht einer kurzfristigen depressiven Phase entsprang. Die Tatsache, dass er seit fünfzehn Monaten Mitglied in Herrn
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