Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
dass es besser war, ihr nichts zu sagen, selbst wenn ich noch etwas anderes sehen würde. Ich wusste, was sie dachte. Sie dachte, ich hätte das zweite Gesicht. Trotz allem, was Dr. Enderby uns gesagt hatte, glaubte sie dennoch, dass ich die »Familiengabe« geerbt hätte. Sie dachte, mein Gehirn hätte angefangen, die Zukunft vorauszusagen – oder wenigstens die Gegenwart zu bestätigen.
Die Zeit meiner Einkerkerung war auch die Zeit, in der ich einen unstillbaren Appetit auf alles Lesbare entwickelte. Das Lesen, so stellte sich heraus, war eins der wenigen Dinge, die ich tun konnte. Ich konnte nirgends hingehen, und ich sah auch nicht gerne fern, außer es lief ein James-Bond-Film. Die einzige Sendung, die mir sonst noch gefiel, war Die Simpsons . Manchmal leistete mir meine Mutter dabei Gesellschaft, nachdem sie Feierabend gemacht hatte. Aber meistens war ich allein, und wenn ich im Schlafanzug vor dem Fernseher hockte, kam ich mir vor wie ein Invalide.
Lesen andererseits gab mir niemals dieses Gefühl. Und ich merkte, dass die stille Konzentration, die dazu erforderlich ist, tatsächlich die Anzahl der Anfälle pro Tag reduzieren half. Lesen versetzte mich in einen Geisteszustand, der gut für mich war.
Nachdem ich das Buch über Epilepsie ein paar Mal gelesen hatte, ließ ich mir von meiner Mutter noch ein paar ähnliche Titel aus der mobilen Bücherei besorgen, zusammen mit einer Einführung in die Funktionen des Gehirns und in die Neurologie – Das menschliche Gehirn für Dummies . Ich las auch noch mehrmals das Buch über Meteore und Meteoriten, das mir Dr. Weir geschickt hatte. Es war von einem Mann namens Martin Beech geschrieben worden, der in Wiltshire lebte, was nicht weit von Somerset entfernt ist. Mein Lieblingskapitel war dasjenige, in dem Mr. Beech über die Wahrscheinlichkeit sprach, von einem Meteoriten getroffen zu werden, der schwerer ist als ein Gramm. Er setzte die Chance dafür bei etwa eins zu zwei Milliarden an – wenn man einhundert Jahre lebte. Mr. Beech (der das Buch vor dem »Woods-Einschlag« geschrieben hatte) sagte, dass es zwar bereits einige Fälle gegeben hatte, in denen ein Meteorit einen Menschen nur knapp verfehlt hatte, aber nur ein einziger Fall bekannt war, bei dem eine Person durch einen Meteoriteneinschlag ernsthaft verletzt worden war. Besagte Person war Mrs. Annie Hodges aus Sylacauga, Alabama, USA, die am 28. November 1954 von einem vier Kilogramm schweren Meteoriten in den Bauch getroffen worden war. Sie lag auf ihrem Sofa. Ihr Meteorit brach genau wie meiner durch die Decke, aber ihre Verletzungen waren nicht so schwer, weil ein Bauch einen solchen Aufprall leichter wegstecken kann als ein Kopf.
In Martin Beechs Buch war ein Foto von Mrs. Hodges abgedruckt. Auf dem Foto steht sie unter dem Loch in ihrer Decke, zusammen mit dem Bürgermeister von Sylacauga und dem Polizeichef. Der Bürgermeister und der Polizeichef lächeln in die Kamera. Mrs. Hodges nicht. Sie betrachtet ihren vier Kilogramm schweren Steinmeteoriten, den sie mit beiden Händen hält. Sie sieht ziemlich missmutig aus.
Folgendes schrieb Martin Beech über Mrs. Hodges und ihren Meteoriten: »Diese Geschichte gemahnt uns daran, dass selbst sehr unwahrscheinliche Ereignisse eintreten können und in der Tat auch eintreten.«
Der Satz gefiel mir, und ich unterstrich ihn mit schwarzem Kugelschreiber.
Ich las nicht nur über Gehirne und Meteoriten; meine Interessen waren breiter gefächert. Ich las auch Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln . (Aus meinem Epilepsiebuch hatte ich erfahren, dass Lewis Carroll ebenfalls an Temporallappenepilepsie gelitten hatte, was vermutlich der Grund für seine merkwürdigen Fantasien war.) Nachdem ich mit Lewis Carroll fertig war, las ich noch mehr Fantasybücher, die ich mir hauptsächlich von Sam auslieh. Ich las Der Hobbit zweimal. Danach las ich zweimal Der Herr der Ringe . Dann las ich Der Goldene Kompass , ebenfalls zweimal. Ich las all diese Bücher zweimal, weil sie mir so gut gefielen, dass ich, nachdem ich sie zu Ende gelesen hatte, sofort wieder anfangen wollte. Wenn ich heute auf dieses Jahr zurückblicke, das ich in der Schachtel verbracht hatte, glaube ich, dass es diese Bücher waren, die mich daran hinderten, vor Selbstmitleid zu zerfließen. Sie gaben mir das Gefühl, dass mein Leben doch eigentlich nicht so schlimm war. Wenn ich diese Bücher las, war ich nicht länger in einer winzigen Welt eingesperrt. Ich fühlte mich nicht länger ans
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